Das Projekt
Das Projektziel besteht darin, soziale Prozesse zu analysieren, die zur institutionell gebundenen Produktion und Verwertung von sicherheitsrelevantem Wissen über städtische Räume führen sowie die Verknüpfung dieses Wissens mit Handlungsmustern im Rahmen der alltäglichen Aufgabenbewältigung der Schutzpolizei zu identifizieren. Hintergrund des Projektes sind die zunehmenden raumorientierten Maßnahmen der Polizei und die Frage danach, welche verschiedenen Wissenspraktiken (technologiebasiert, wahrnehmungsorientiert etc.) zur Identifizierung problematischer Räume und zur Umsetzung von raumorientierten Maßnahmen beitragen.
Hierfür werden zwei großstädtische Polizeidirektionen untersucht. Dabei wird der Fokus der qualitativen Erhebungen (Beobachtungen und Interviews) auf Bereiche wie Informationsrecherche, Informationsverwaltung, Zugänge zu den Informationen für die Mitarbeiter und die diskursiven Elemente gelegt.
Die im Projekt erzielten Erkenntnisse werden intensiv mit Vertreterinnen und Vertretern der Polizeipraxis diskutiert, um Reflexionsprozesse über Mechanismen der Wissensproduktion und dem Wissensmanagement mit Bezug zur raumorientierten Polizeiarbeit anzuregen. Es wird angestrebt, dass die Ergebnisse des Projektes schließlich zu einem interdisziplinären Diskurs über Chancen und Gefahren einer raumorientierten Bearbeitung von Kriminalitätsphänomenen beitragen.
Abschlusskonferenz "Die institutionelle Raumproduktion des Städtischen"
Forschungsfragen
Folgende leitende Fragestellungen sollen im Forschungsprojekt beantwortet werden:
- welche raumbezogenen Wissenspraktiken lassen sich im binnenpolizeilichen Kontext identifizieren und welche Informationen transportieren sie?
- aufgrund welcher sozialen Praktiken geht ein bestimmter Vorrat an Wissen in die Organisationswirklichkeit über?
- auf welche Weise spiegeln sich Raumkonstruktionen in Handlungsroutinen wider?
- inwiefern sind die identifizierten Raumkonstruktionen spezifisch für die Organisation?
Forschungsmethoden
Qualitative Datenerhebung – Ethnografie
Die Forschung beinhaltet mehrmonatige teilnehmende Beobachtungen im Wach – und Wechseldienst der Polizei zweier westdeutscher Großstädte. Die Beobachtungen werden mittels Feldtagebücher und Gedächtnisprotokollen aufgezeichnet und
durch jeweils 30 leitfadengestützte Interviews mit PolizeibeamtInnen unterschiedlicher hierarchischer Ebenen ergänzt.
Um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, inwieweit das Raumwissen spezifisch für die Organisation der Polizei ist, sind kontrastierende Interviews mit lokalen Akteuren der jeweiligen Stadtteile vorgesehen.
Die gewonnenen Daten werden mithilfe MAXQDA durch Anwendung der Grounded Theory Methodologie (GTM) kodiert und analysiert. Da wenig bekannt darüber ist, welche Konstitutionsprozesse polizeilichen Wissens über großstädtische Räume und ihre Verknüpfung mit Handlungsroutinen existieren, eignet sich die GTM als explorativ angelegte Methode, die eine Durchdringung des Gegenstands zur Generierung einer neuen Theorie ermöglicht (Strauss et al. 1996; Glaser & Strauss 1998). Das Vorgehen ist daher reflexiv-rekursiv ausgerichtet und Erhebung, Analyse sowie Theoriebildung werden nicht sequenziell vorgenommen, sondern greifen ineinander.
Statistische Datenerhebung – Analyse raumbezogener Polizeidaten
Geocodierte Notrufdaten der Polizei in Hinblick auf die räumliche Verteilung von verschiedenen Phänomenen werden zusätzlich analysiert. Es ergeben sich somit Anhaltspunkte für raumbezogene Belastungen und Einsatzerfahrungen der PolizistInnen. Die Ergebnisse werden mit den Erkenntnissen der explorativen Erhebung kontrastiert, nicht als Validierungsversuch, sondern als erweiterndes Element, das auf die registrierte Verteilung von Polizeieinsätzen abzielt.
Hintergrund des Forschungsprojekts
Die bisherige Forschung zur raumbezogenen Produktion polizeilichen Wissens weist vier wesentliche Defizite auf, welche mit dem Vorhaben aufgegriffen und ausgeglichen werden sollen. Erstens ist sie größtenteils von einem Raumverständnis geprägt, das Orte, Plätze, Straßen, Viertel etc. als „Container“ begreift, welcher mit Phänomenen gefüllt wird, die Ausdruck sozialer Prozesse sind. Zweitens findet eine Beschäftigung mit der Rolle sozialer Prozesse bei der Produktion von Raumwissen nur rudimentär statt, dafür liegt das Augenmerk insgesamt stärker auf den Folgen raumorientierter Polizeiarbeit. Drittens werden verschiedene Wissensformen, sprich empirisches, falsifizierbares sowie spekulatives, alltägliches Wissen meist isoliert voneinander betrachtet. Es ist jedoch davon auszugehen, dass datenbasiertes Wissen und alltägliches Erfahrungswissen eng miteinander verwoben sind, da beispielsweise die Erstellung von Datenbanken mit einer Dekontextualisierung von Information und die Auswertung von Daten wiederum mit einer Rekontextualisierung von Informationen verbunden ist (Creemers 2016, S. 114ff.). Viertens beziehen sich Kenntnisse zu polizeilichem Wissen in Bezug auf den städtischen Raum in Deutschland ausschließlich auf Ergebnisse aus Befragungs- oder Interviewmethoden, womit verbal nicht zu explizierende Vorstellungen und Praktiken im Dunkeln bleiben. Mittels eines ethnographischen Forschungsdesigns soll insbesondere diese letztgenannte Forschungslücke hierzulande geschlossen werden. Das Vorhaben zielt unter Berücksichtigung der hier identifizierten Defizite auf die Produktion differenzierter Ergebnisse zur Konstruktion von sicherheitsrelevanten Räumen im Arbeitsalltag der Polizei in Deutschland.
Theoretischer Rahmen
Die Betrachtung des polizeilichen Umgangs mit Raum soll unter wissenssoziologischen Aspekten vorgenommen werden. Im Rahmen des konstruktivistischen Paradigmas gilt Wissen als etwas, das „die Akteure für wahr oder für richtig halten“ und „was Handeln leitet“ (Knoblauch 2008, S. 466). Im Rahmen des Vorhabens wird ein praxeologischer Blick auf Wissen geworfen, d.h. selbiges wird als prozessual, praxisbezogen und „situativ geerdet“ (Koch & Warneken 2012, S. 13) verstanden. Es ist weiter davon auszugehen, dass Wissen in Interaktionen ausgehandelt und sozial vermittelt wird und ebenso wie die damit assoziierte Definitions- und Handlungsmacht im „jeweiligen Kontext sinnhaft“ erschlossen werden muss (Christ 2013; Beck 2012, S.27). Der hier zugrunde gelegte Wissensbegriff ist mehrdimensional und berücksichtigt verschiedene Wissensformen wie explizites und implizites Wissen, technokratisches und alltägliches Wissen sowie ihre Verknüpfungen (vgl. Collins 2010; Kocyba 2013).
Weiterhin wird in dem Vorhaben von einer Dualität des Raums ausgegangen (vgl. Läpple 1991; Malpas 2012; Löw 2013). Insofern erscheint er als sozial und gesellschaftlich produzierter, materiell-physischer Raum, gleichsam als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, sowie als soziale Konstruktion infolge von Wahrnehmungen und Handlungen der Anwesenden. Im Rahmen dieses Raumverständnisses sind es nicht bloß die physischen Strukturen, die soziales Handeln lenken, sondern die Bedeutungen, die räumlichen Strukturen und Orten zugeschrieben werden (Schroer 2007, S. 40). Interpretationen des Raums haben Einfluss auf die „mental maps“ der Subjekte und müssen insofern nicht immer wieder neu vorgenommen werden, d.h. sie haben eine komplexitätsreduzierende Wirkung für die Situationsdefinition (Wehrheim 2009, S. 18). Raumbedeutungen reflektieren gesellschaftliche Normen, Werte und Erfahrungen, d.h. topographische Räume werden mit relationalen Räumen überlagert (Stichweh 2003, S. 99). Der physisch-materielle und der sozial konstruierte Raum stehen grundsätzlich in einem Wechselverhältnis zueinander, indem ersterer Wahrnehmungen und Handlungen beeinflusst und letzterer wiederum auf die (Re-)Produktion des physisch-materiellen Raums wirkt. Im Rahmen des Vorhabens wird der Raum dementsprechend als relationales (Wissens-)Konstrukt behandelt.
Die Forschung konnte nur durch die uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft der Polizeiinspektionen vor Ort ermöglicht werden. Hierfür sind wir sehr dankbar.
Literatur
- Beck, Stefan (2012): Anmerkungen zu materiell-diskursiven Umwelten der Wissensarbeit. In: Bahl, Anke; Amelang, Katrin & Barth, Manuela (Hrsg.), Wissensarbeit und Arbeitswissen. Frankfurt/New York: Campus, S. 27-39.
- Breidenstein, Georg; Hirschauer, Stefan; Kalthoff, Herbert & Nieswand, Boris (2013): Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz/München: UVK.
- Christ, Michaela, 2013: Codierung. In: Gudehus, Christian & Christ, Michaela (Hrsg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 190-196.
- Collins, Harry (2010): Tacit and Explicit Knowledge. Chicago: University of Chicago Press.
- Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm (1998): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Huber.
- Creemers, Niklas (2016): Über Datenbanken und Analysetools: Die polizeiliche Konstruktion von Wissen und Verdacht in soziotechnischen Netzwerken. In: Grutzpalk, Jonas (Hrsg.), Polizeiliches Wissen. Frankfurt a.M.: Verlag für Polizeiwissenschaften, S. 101-129.
- Knoblauch, Hubert (2008): Wissen. In: Baur, Nina; Korte, Hermann; Löw, Martina & Schroer, Markus (Hrsg.), Handbuch Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 465-481.
- Koch, Gertraud & Warneken, Bernd Jürgen (2012): Wissensarbeit und Arbeitswissen: zur Ethnografie des kognitiven Kapitalismus. Eine Einleitung. In: dies. (Hrsg.), Wissensarbeit und Arbeitswissen: zur Ethnografie des kognitiven Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Campus, S. 11-27.
- Kocyba, Hermann (2013): Wissen. In: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne & Lemke, Thomas (Hrsg.), Glossar der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 300-307.
- Läpple, Dieter (1991): Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept. In: Häußermann, Hartmut; Ipsen, Detlev; Krämer-Badoni, Thomas, Läpple, Dieter; Rodenstein, Marianne & Siebel, Walter (Hrsg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler: Centaurus, S. 157-207.
- Löw, Martina (2013): Raumsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
- Malpas, Jeff (2012): Putting Space in Place: Philosophical Topography and Relational Geography. In: Environment and Planning D: Society and Space 30 (2), S. 226-242.
- Schroer, M. (2007): Raum als soziologischer Begriff. Programmatische Überlegungen, In: Jan Wehrheim (Hrsg.), Shopping Malls. Interdisziplinäre Betrachtungen eines neuen Raumtyps. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 35-53.
- Stichweh, Rudolf (2003): Raum und moderne Gesellschaft. Aspekte der sozialen Kontrolle des Raums. In: Krämer-Badoni, Thomas & Kuhm, Klaus (Hrsg.), Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie. Opladen: Leske und Budrich, S. 93–102.
- Strauss, Anselm. L.; Corbin, Juliet, M. & Niewiarra, Solveigh (1996): Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz, Psychologie-Verlag-Union.
- Walcott, Harry F. (1999): Ethnography: A Way of Seeing. Oxford. Alta Mira.
- Wehrheim, Jan (2009): Der Fremde und die Ordnung der Räume. Opladen: Barbara Budrich.
Vorträge
- Brauer, E. & Dangelmaier, T. "Polizei im Raum – Über die Konstruktion städtischer Räume als Grundlage polizeilichen Handelns" Vortrag auf der virtuellen 2. Tagung des Netzwerks „Kriminologie in NRW“. Münster: 12. Juni 2020.
- Brauer, E., Dangelmaier, T. "Policing practice based on space-construction". Vortrag auf der 19th Annual Conference of the European Society of Criminology. Ghent: 21. September 2019.
- Brauer, E., Dangelmaier, T. "Police Spatial Knowledge - The Construction of normality in the public space". Vortrag auf dem 3rd DiscoursNet Congress DNC3, ALED: Knowledge and power in a polycentric world. Paris: 11. September 2019.
- Brauer, E., Dangelmaier, T., Hunold, D. "'Clankriminalität' – Die diskursive Konstruktion eines Kriminalitätsphänomens". Vortag auf der Tagung Empirische Polizeiforschung XXIII. Wien: 7. Juli 2019.
- Hunold, D. „Was weiß die Polizei über die Gesellschaft? – Zum Verhältnis von Fakten- und Erfahrungswissen im Polizeialltag“. Vortrag beim Fachdialog Sicherheitsforschung „Vielfältige Sicherheiten – Gesellschaftliche Dimensionen der Sicherheitsforschung“. Berlin: 27. Juni 2019.
- Hunold, D. „Polizeiliches Wissensmanagement: Faktenwissen versus Erfahrungswissen“. Vortrag beim Forum KI, Bundekriminalamt. Wiesbaden: 24. Juni 2019.
- Brauer, E., Dangelmaier T. „Die Bedeutung der Narrative für das polizeiliche Handeln“. Vortrag auf dem 22. Europäischen Polizeikongress. Berlin: 20. März 2019.
- Hunold, D., Brauer, E., Dangelmaier, T. „Power of Narratives as the Base for German Police Action in Public Space”. Vortrag auf der Policing Ethnography Conference. Newcastle: 25. Januar 2019.
- Brauer, E., Dangelmaier, T. „Das Verhältnis zwischen Jugendlichen und der Polizei im öffentlichen Raum“. Vortrag auf der 14. Tagung der polizeilichen Jugendsachbearbeitenden. Aarau: 16. Oktober 2018.
Veröffentlichungen
- Dangelmaier, Tamara & Brauer, Eva (2020): Selektive Polizeiarbeit – Raumordnung und deren Einfluss auf das polizeiliche Handeln. In: Daniela Hunold & Andreas Ruch (Hrsg.), Polizeiarbeit zwischen Praxishandlung und Rechtsordnung. Wiesbaden: Springer.
- Hunold, Daniela, Dangelmaier, Tamara & Brauer, Eva (2020): Soziale Ordnung und Raum – Aspekte polizeilicher Raumkonstruktion. In: Soziale Probleme – Zeitschrift für Soziale Probleme und Soziale Kontrolle,
https://link.springer.com/article/10.1007/s41059-020-00070-1 (Öffnet in einem neuen Tab) - Brauer, Eva; Dangelmaier, Tamara & Hunold, Daniela (2020): „Clankriminalität“ – Die diskursive Konstruktion eines Kriminalitätsphänomens. In: Hermann Groß & Peter Schmidt (Hrsg.), Polizei und Migration. Frankfurt a.M.: Verlag für Polizeiwissenschaft.
Projektteam an der Deutschen Hochschule der Polizei
Dr. Daniela Hunold
Eva Brauer M.A.
Tamara Dangelmaier M.A.
Projektdaten
Förderung
Projektlaufzeit
1. November 2017 bis Februar 2021