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Themenfeld politisch motivierte Kriminalität gewinnt weiterhin an Bedeutung

24. Mai 2023

Die Zahl politisch motivierter Straftaten hat im vergangenen Jahr mit knapp 60.000 Delikten einen Höchststand seit Einführung der Statistik 2001 erreicht. Das geht aus dem entsprechenden Jahresbericht des Bundeskriminalamtes (Öffnet in einem neuen Tab)(BKA) hervor, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser und BKA-Präsident Holger Münch am 09. Mai 2023 in Berlin vorstellten. An der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster beschäftigt sich Joachim Faßbender, Leiter des Fachgebiets III.3 – Kriminalistik – Phänomenbezogene Kriminalstrategie, mit dem Themenkomplex.

Was ist unter politisch motivierter Kriminalität zu verstehen?

Joachim Faßbender: Bei der politisch motivierten Kriminalität (PMK) geht es – verkürzt dargestellt – um die Beeinflussung des politischen Willensbildungsprozesses bzw. politischer Zielsetzungen. Bei Delikten der Allgemeinkriminalität steht das tatauslösende Motiv des Täters/der Täterin im Vordergrund, also wenn beispielsweise politische Entscheidungen herbeigeführt oder verhindert werden sollen. Des Weiteren zählen hierzu Fälle, in denen Personen aufgrund ihrer politischen Haltung oder aufgrund von Vorurteilen des Täters/der Täterin Opfer einer Straftat werden. Hierunter fallen aber auch Straftaten, welche unabhängig von der Motivation des Täters/der Täterin den sogenannten echten Staatsschutzdelikten (unmittelbar staatsgefährdende Straftaten) zugerechnet werden. Dies sind unter anderem Propagandadelikte oder terroristische Straftaten. Im BKA Jahresbericht werden fünf Phänomenbereiche unterschieden. Unter diesen dominieren für das Jahr 2022 quantitativ die PMK -nicht zuzuordnen- und die PMK -rechts-. 

Welche Bedeutung hat die politisch motivierte Kriminalität insgesamt in Deutschland? 

Joachim Faßbender: Die politisch motivierte Kriminalität ist von erheblicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung. Auch wenn die Anzahl diesbezüglicher Straftaten nach dem kriminalpolizeilichen Meldedienst PMK im Fallzahlenvergleich mit den Straftaten insgesamt nach der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gering ist, liegen sie doch regelmäßig bei etwa 0,5 - 1 Prozent der Gesamtstraftaten. Die Ursachen der PMK sind vielfältig und stark von gesellschaftlichen, politischen, technischen und ökonomischen Entwicklungen, aber auch herausragenden Ereignissen im In- und Ausland beeinflusst. Grundlegende Veränderungsprozesse und damit einhergehend zunehmende Unsicherheiten wirken sich verstärkend auf die Fallzahlenentwicklung aus.

Joachim Faßbender, Leiter des Fachgebiets Kriminalistik – Phänomenbezogene Kriminalstrategie

Wie ist der Anstieg der Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität für die Polizeiwissenschaft einzuordnen? 

Joachim Faßbender: Vergleicht man die Entwicklung von 2021 zu 2022 wird wieder deutlich, dass die PMK in ihren Ausprägungen zum Teil deutlichen Schwankungen unterworfen ist: Entgegen den Entwicklungen im Vorjahr verzeichnet der Bereich PMK -rechts- in 2022 einen Zuwachs von rund 7 Prozent. Deutlich verstärkt hat sich im Vergleich zum Vorjahr der Rückgang der PMK -links-. Die Zahl der Delikte ist in 2022 um rund 31 Prozent gesunken. Erheblich verlangsamt hat sich dagegen der Zuwachs der PMK -nicht zuzuordnen-, wenngleich dieser mit rund 41 Prozent Anteil am Gesamtstraftatenaufkommen der PMK in 2022 nunmehr die höchsten Fallzahlen aller Phänomenbereiche ausweist. Straftaten im Phänomenbereich -nicht zuzuordnen- können zwar keinem der übrigen Phänomenbereiche eindeutig zugeordnet werden, gleichwohl jedoch einzelnen Themenfeldern. Diese Entwicklung zeigt, dass sich das Gesamtbild der PMK hinsichtlich der ideologischen Ausrichtung weniger klar darstellt, als noch in der Vergangenheit.

Neben der Entwicklung der Fallzahlen in den unterschiedlichen Phänomenbereichen und Themenfeldern stellen die Gewaltdelikte einen wichtigen Indikator dar. Diese sind in 2022 um rund 4 Prozent gestiegen, also deutlich weniger als noch im Vorjahr. Im Bereich der PMK -rechts- erfolgte ein Anstieg um ca. 12 Prozent; im Bereich PMK -links- ein Rückgang um ca. 30 Prozent. Damit ist das Gesamtaufkommen verübter Gewalttaten im Bereich der PMK -links- erstmals wieder seit 2004 niedriger als im Bereich der PMK -rechts-. Gleichwohl waren 41 Prozent der insgesamt erfassten Opfer solche von Gewalttaten von rechtsmotivierten Täter*innen. Der gleichzeitige erneute Anstieg der durch die PMK -rechts- dominierten Hasskriminalität um rund 10 Prozent deutet auf eine Gewalt fördernde Funktion der Hasskriminalität hin, zumal auch in diesem Deliktsfeld ein erheblicher Zuwachs an Gewaltkriminalität zu konstatieren ist (rund 33 Prozent). Hier erfahren die Themenfelder Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit nominal die höchsten Zuwächse. Besorgniserregend ist ebenso die Fallzahlenentwicklung im Zusammenhang mit den sogenannten "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" (+ rund 40 Prozent), vor allem auch die Entwicklung der Gewaltkriminalität (+ rund 40 Prozent) in diesem Themenfeld. Nahezu verdoppelt haben sich die Straftaten im Zusammenhang mit den Klimaprotesten, welche auch künftig ein Schwerpunktthema im Bereich der PMK -links- bilden dürften.

Welche Herausforderungen ergeben sich für die Zukunft?

Joachim Faßbender: Die beschleunigten, nahezu alle Lebensbereiche betreffenden, aktuellen Entwicklungen stellen eine enorme Herausforderung für die Gesellschaft und den Einzelnen, aber auch für Organisationen und Institutionen dar. Beispielsweise onlinebasierte Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten ermöglichen eine deutlich stärkere Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs. Sie stärken einerseits den demokratischen Willensbildungsprozess. Andererseits fördern sie aufgrund von Anonymität und persönlicher Distanz die Verbreitung von Hass und Hetze und damit Polarisierungstendenzen. 

Aushandlungsprozesse sind vielfältiger geworden, indem bspw. Partikularinteressen verstärkt in den Vordergrund rückten, nahmen aber in Teilen auch an Schärfe zu. Damit verbundene Unsicherheiten aber auch gesteuerte Einflussnahmen bspw. durch Desinformation ebnen den Weg für Radikalisierungsprozesse, was sich letztlich in den Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität niederschlägt. Auch wenn wissenschaftliche Studien regional unterschiedliche Entwicklungen einzelner Phänomenbereiche und Themenfelder nachweisen, gilt es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die demokratische Resilienz zu stärken und seitens der Sicherheitsakteure die Phänomene der politisch motivierten Kriminalität – unabhängig von ihren Zielsetzungen und Akteuren – gleichermaßen nachhaltig zu bekämpfen und dabei zügig auf Veränderungen zu reagieren.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Vernetzung der beteiligten Behörden. Zusammen mit der Akademie für Verfassungsschutz, dem Bundeskriminalamt und der Bundespolizeiakademie, organisieren wir beispielsweise Führungskräftekollegs Polizei & Verfassungsschutz, bei denen die Kenntnisse über Tätigkeitsfelder, Kompetenzen und Erwartungen der jeweils anderen Behörde vertieft, Erfahrungen in der bisherigen Zusammenarbeit auf gemeinsamen Arbeitsfeldern ausgetauscht und die Fortentwicklung der bestehenden Kooperation diskutiert werden. Darüber hinaus führen wir Fortbildungsveranstaltungen zu einzelnen Kriminalitätsphänomenen durch und stärken den Austausch von Wissenschaft und Praxis.

 

Hintergrundinformationen:

Das DHPol-Fachgebiet Kriminalistik – Phänomenbezogene Kriminalstrategie (Öffnet in einem neuen Tab)befasst sich neben weiteren Themenfeldern mit kriminalstrategischen Aspekten der politisch motivierten Kriminalität und damit strategischen Aspekten zur Bekämpfung dieses Phänomens. Fragen der Prävention und Repression stehen hierbei im Vordergrund. PMK wird zum einen in der Lehre und damit der Ausbildung der Führungskräfte für den höheren Polizeidienst behandelt. Studierenden werden kriminalstrategische Aspekte, die für künftiges Führungshandeln relevanten phänomenologischen Grundlagen und Grundlagen zur Organisation und Funktion des Polizeilichen Staatsschutzes vermittelt. Zum anderen informiert das Fachgebiet über aktuelle sicherheitspolitische und -rechtliche Entwicklungen und Diskurse und gestaltet unterschiedliche Formate der Fort- und Weiterbildung. Die Beteiligung an bzw. Initiierung von neuen Forschungsvorhaben im Phänomenbereich gehören ebenso zu den Aufgaben. Durch die Einbindung des Fachgebiets in die entsprechenden Gremien auf nationaler Ebene (zum Beispiel die Kommission Organisierte Kriminalität und die Kommission Staatsschutz), Kontakten auf internationaler Ebene sowie Verbindungen zu nationalen und internationalen wissenschaftlichen Institutionen, trägt die DHPol zur Verzahnung von Wissenschaft und Praxis bei. 

Die BKA-Statistik zur politisch motivierten Kriminalität 2022 ist unter www.bmi.bund.de/pmk2022 (Öffnet in einem neuen Tab) abrufbar.

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