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Christian Barthel und Alexander Schiele
Die Diskussion um Führungsverständnisse innerhalb der Polizei ist dem Netzwerk Führung, dem die Lehrenden aller polizeilichen Ausbildungsinstitutionen des Bundes und der Länder angehören, ein wichtiges Anliegen. Innerhalb dieser Diskussion nimmt die Auseinandersetzung mit dem KFS und der Frage seiner Ablösung oder Ergänzung einen prominenten Stellenwert ein, der auch durch die zahlreichen Beiträge der letzten Jahre illustriert wird.
Dieser Beitrag begleitet speziell die Diskussion und Arbeit einer Projektgruppe des Landes Rheinland-Pfalz, welche den Auftrag erhielt zu prüfen, ob auf der Grundlage des von Barthel/Heidemann vorgelegten Führungskonzeptes „KFS 2.0“ und der von Thielmann/Weibler vorgelegten „Polizeilichen Führungslehre“ erstens ein neues Führungsverständnis zu entwickeln beziehungsweise zu formulieren ist und ob dementsprechend zweitens neue Leitlinien zu erzeugen sind beziehungsweise Erlasse wie die PDV 100 und landesspezifische Erlasse zur „Führung und Zusammenarbeit“ überarbeitet werden sollten. Gegeben wurde dieser Auftrag vom Unterausschuss Führung, Einsatz, Kriminalitätsbekämpfung.
Das seit den 70er Jahren etablierte Führungsmodell KFS von Altmann/Berndt genießt aufgrund seiner Manifestierung in der PDV 100, Abs. 1.5 den alleinigen Anspruch legitimier Führung innerhalb der Polizei. Für diesen weitreichenden Anspruch ist die maßgebliche Handlungsanleitung für Mitarbeiter und Vorgesetzte in der PDV 100 bei „Führung und Einsatz der Polizei“ jedoch denkbar gering.
Die PDV 100 bietet zwar eine unmittelbar instruktive Orientierung bezüglich der konkreten Tätigkeiten polizeilichen Handelns, etwa im Bereich der Ermittlungen, den taktischen Maßnahmen bei schutzpolizeilichen Lagen sowie den Maßnahmen aus besonderem Anlass (z.B. Versammlungen, Bedrohungs- und Amoklagen), die darüber hinaus reichenden weniger operativen Führungsfelder werden jedoch lediglich ohne instruktive Orientierung gestreift. Zu ihnen gehören beispielsweise die Grundsätze der polizeilichen Kriminal- oder Verkehrsprävention, prinzipielle Fragen des Organisationsaufbaus (v.a. des Verhältnisses von Allgemeiner Aufbauorganisation/AAO und besonderer Aufbauorganisation/BAO) oder das Thema Führung. In dem ohnehin sehr kurzen Passus zur Führung (insgesamt 4 Seiten, davon allein eine Seite zum Thema „Mitarbeiterfürsorge“) wird in gerade einmal sechs Zeilen ausdrücklich auf das KFS Bezug genommen: „Führung dient dem gemeinsamen Erreichen von Zielen. Durch kooperatives Führen sollen Leistungen, Arbeitszufriedenheit und Motivation erreicht werden. Das Kooperative Führungssystem (KFS) mit seinen Elementen Delegation, Transparenz, Beteiligung, Repräsentation, Kontrolle, Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung ist verbindliche Führungskonzeption, in der sich aufgabenbezogenes und mitarbeiterbezogenes Führungsverhalten ergänzen“ (S. 20).
Die Legitimierung des KFS gelang seinerzeit mit Hilfe des Arguments der Alternativlosigkeit. Dieses Argument greift heute aber aufgrund der stetig wachsenden und sich erweiternden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr. Weiter gilt die das KFS bestimmende Vorstellung von Organisationen als zweckumsetzenden Maschinen als überholt. Eine den heutigen Erkenntnissen entsprechende Vorstellung von Organisationen ist die dreigeteilte Perspektive von Stefan Kühl, mit der Schauseite, formale Seite und informale Seite unterschieden werden können.
Die Schauseite einer Organisation trägt dem Aspekt widersprüchlicher Umwelterwartungen Rechnung. So agiert die Polizei in einem Kontext, in dem Politik, Medien, Öffentlichkeit (inklusive des Handy-Journalismus von Jedermann), Verwaltung oder zivilgesellschaftliche Akteure jederzeit ein als problematisch definiertes Verhalten der Polizei skandalisieren können und so nachhaltig Einfluss auf das Tagesgeschäft nehmen. Die Gestaltung der Schauseite hilft genau solche äußeren Einflussnahmen zu begrenzen. Dabei gilt es aber nicht nur das Innen der Polizei mit Hilfe der Schauseite gegen die zudringlichen Einblicke von außen abzuschirmen und zu schützen, sondern auch eine ganz besondere Form der Vertrauenswürdigkeit gegenüber ihren unterschiedlichen Publika zu signalisieren. Zugespitzt formuliert: Der Schein von Professionalität, Perfektion, Bürgerfreundlichkeit, Fehlerfreiheit und einhundertprozentiger ad-hoc-Handlungsfähigkeit ist die entscheidende Ressource dafür, dass Bürger und Gesellschaft sich sicher fühlen können und an die Einsatzfähigkeit der Polizei glauben können. Noch mehr also als ein Produktionsunternehmen, das Rücksicht z.B. auf Fragen des Umweltschutzes und regionaler Verantwortung nehmen muss, ist die Polizei im bestandskritischen Sinne auf die gute Wirkung ihrer Schauseite angewiesen.
Die formale Seite setzt sich aus den offiziell formulierten Erwartungen seitens der Organisation an ihre Mitarbeiterinnen und Führungskräfte zusammen. Formale Erwartungen sind zum Beispiel Vorschriften und Regeln sowie die Akzeptanz der zugewiesenen Stelle, der dort anfallenden Arbeit, die damit einhergehenden Kooperationen mit Kollegen, Vor- und Nachgeordneten, die prinzipielle Arbeitsteilung und Standardabläufe. Ihren verbindlichen Charakter haben die formalen Erwartungen dadurch, dass sie unmittelbar mit der basalen Mitgliedschaftsrolle (Luhmann 1964, S.39-54) verknüpft sind. Wer diese Regeln nicht akzeptieren kann oder will, kann kein Organisationsmitglied werden beziehungsweise bleiben.
Diese Seite der Organisation stellt im Verständnis der Urväter des KFS die eigentliche und wesentliche dar. Die Organisation wird gesehen als formales Räderwerk, als Maschine und optimierbares Ordnungssystem, in dem Abweichungen und Informalität zwar vorkommen mögen, aber letztlich nur als behebbarer Unfall und kurierbare Abweichung. Regeln sollen Handeln determinieren beziehungsweise als „Verhaltensvorschrift“ (so Altmann/Berndt bezüglich der Sechs Elemente des KFS) wirken und dafür sorgen, dass sich selbstverständliche Folgebereitschaft einstellt.
Schließlich gibt es noch die informale Seite einer Organisation, die den Gegenpol zur formalen Seite darstellt. „Informal sind alle Erwartungen, die nicht mit Bezug auf die Mitgliedschaftsbedingungen formuliert werden (oder werden können)“ (Kühl 2011, S. 115). Die informale Seite entwickelt sich gewissermaßen in Ko-Evolution zur formalen Seite: Formale Strukturen, Arbeitsteilung, Aufbau- und Ablauforganisation ermöglichen und rufen das Informale hervor, ohne es aber determinieren oder steuern zu können. Und genau in diesem Sinne ist die Organisation deutlich mehr als ihre formalen Strukturen, mithin das Ergebnis a) der vielfältigen Anforderungen von außen (gegen die sich die Organisation einerseits zur Wehr setzen, zugleich aber auch gerecht werden muss) und b) der informalen Praktiken seitens der Alltagsorganisation. Damit wird auch klar, dass das Bild der Maschine, wie es von Altmann/Berndt, aber auch implizit in der PDV 100 gezeichnet wird, nicht passend, d.h. theoretisch unterkomplex und praktisch unrealistisch ist.
Vorgeschlagen wird daher in Anlehnung an Dirk Baecker Führung als postheroische Kompetenz zu begreifen. „Postheroische Führung ist eine Führung, die ein Team, ein Projekt, eine Abteilung, ein Unternehmen, ein Land nicht nur nach außen repräsentiert und nach innen eint, sondern darüber hinaus Repräsentation und Einheit nicht miteinander verwechselt, sondern so voneinander unterscheidet, dass das Innen und das Außen variiert werden können, ohne die Existenz des Teams, des Projektes, der Abteilung, des Unternehmens oder des Landes aufs Spiel zu setzen. Postheroische Führung findet dort statt, wo eine Übersetzung des Außen in das Innen oder umgekehrt des Innen in ein Außen nicht möglich ist und diese Unmöglichkeit in immer neue Strategien und Taktiken der Auseinandersetzung umgesetzt wird. Postheroische Führung ist daher nicht nur situativ, inkrementalistisch und improvisiert, sondern auch in der Hinsicht prozessorientiert, dass immer wieder neu überprüft wird, mit welchen Ideen, Kompetenzen und Ressourcen man unter welchen Umständen welche Erfahrungen machen kann“ (Baecker 2015, S.1).
Das alleingültige Führungsmodell KFS ist in seiner bisherigen Form, das heißt mit seinen Implikationen für das Rollenverständnis der Führungskraft, die Gestaltung der Interaktion zwischen Führungskraft und Mitarbeiter als auch dem dazugehörigen Organisationsverständnis, heute weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht plausibel. Zudem erfährt es in der PDV keine umfassende Darstellung, die Führungskräften eine adäquate Orientierung bietet und damit eine adäquate Anwendung unterstützen würde. Für den zukünftigen Umgang mit dem KFS und dessen Manifestierung in der PDV 100 wirft dies unter anderen die folgenden Unklarheiten und Fragen bezüglich des Umgangs und der Art und Weise seiner Manifestierung in der PDV 100 auf:
- Braucht die Polizei überhaupt ein verbindliches Führungsmodell und wenn ja welches?
- Soll die PDV 100 für die Verankerung von verbindlichen Führungsaussagen genutzt werden? Sollen solche Ausführungen direkt oder in einem Anhang intensiviert werden?
- Ist alternativ zur PDV 100 die Entwicklung von Führungsleitlinien mit Gültigkeit für alle Polizeien des Bundes und der Länder vorstellbar?
- Welche Aspekte scheinen hierfür zentral? Wie könnte man vorgehen?
Literatur:
Altmann/Berndt (1982) Grundriss der Führungslehre – Grundlagen der kooperativen Führung; Lübeck, Verlag Schmidt/Römhild.
Altmann/Berndt (1983) Grundriss der Führungslehre – Führen in der Organisation; Lübeck, Verlag Schmidt/Römhild.
Baecker, D. (2015) Postheroische Führung – Vom Rechnen mit Komplexität; Wiesbaden, Springer/Gabler.
Kühl, S. (2011) Organisationen – Eine sehr kurze Einführung; Wiesbaden, VS Verlag.
Luhmann, N. (1964) Funktionen und Folgen formaler Organisation; Berlin, Duncker&Humblot.
Polizeidienstvorschrift 100, Ausgabe 2012, Stand 09/2016; Führung und Einsatz der Polizei.
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