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von Dirk Heidemann (Deutsche Hochschule der Polizei)
Als Bundesinnenminister Horst Seehofer es frei nach dem Motto „was nicht sein darf, das nicht sein kann“ erstmals öffentlich ablehnte, eine Studie zum Rassismus in der Polizei zu fördern, stellte er sich möglicherweise vor, mit dieser Entscheidung die Debatte beenden zu können. Dies gelang – wie wir heute sehen können – nicht. Inzwischen erwägen Niedersachsen und Berlin eine derartige Studie zu unterstützen und möglicherweise kommt Sachsen, dessen Landespolizeipräsident eine Studie begrüßen würde, hinzu.
Um es vorwegzunehmen: In diesem Beitrag geht es nicht um die Frage, ob es (strukturellen) Rassismus in der Polizei gibt. Dass es Rassismus in der deutschen Gesellschaft gibt, dass es in Folge dessen Rassismus auch in öffentlichen und privaten Organisationen und dass es Rassismus in Folge dessen auch in der Polizei gibt, ist hinreichend untersucht, belegt und darüber hinaus auch anerkannt (vgl. Decker, O. et al 2018, Zick et al 2019). Zudem hat der Bundestag sicher nicht von ungefähr das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung mit dem Aufbau eines Rassismus-Monitors beauftragt und dieses Vorhaben mit 9.000.000 Euro gefördert.[1] Auf europäischer Ebene steht die deutsche Polizei im Zusammenhang mit Rassismus schon seit längerem im Fokus. 2015 zeigte sich der europäische Menschenrechtskommissar in seinem Bericht über ‚racial profiling‘ besorgt. Zwei Jahre später kam die Expertengruppe der Vereinten Nationen zu Menschen afrikanischer Abstammung zu dem Schluss, dass ‚racial profiling‘ in der deutschen Polizei weit verbreitet sei (vgl. ECRI 2020, Ziff. 104 der Empfehlungen).
Auslöser dieses Beitrags ist also nicht die Feststellung Seehofers, es gäbe keinen Rassismus in der Polizei. Es ist vielmehr seine Begründung, die sinngemäß lautete, eine Studie sei nicht vonnöten, weil der Polizei ‚racial profiling‘ und andere rassistische Praktiken verboten seien.[2] Eigentlich eher ein Fall für Satire, ist die Angelegenheit gleichwohl ernst, denn die Begründung verweist auf ein Muster, in dem Polizei regelmäßig reagiert, wenn sie in Frage gestellt wird. Ein Muster, das darin besteht, Kritik an der Polizei von vornherein zu verunmöglichen. Ein Muster, welches die Polizei letztendlich daran hindert, sich im Sinne einer Professionalisierung weiterzuentwickeln und – bezogen auf die Debatte um Rassismus in der Polizei – allen Mitgliedern der Gesellschaft eine adäquate Dienstleistung anzubieten.
Bevor ich auf das angedeutete Reaktionsmuster eingehe, möchte ich einen kurzen Eindruck von der aktuellen Diskussion um Rassismus in der Polizei, die Ende Mai 2020 Fahrt aufgenommen hat, geben. Im Anschluss daran werde ich anhand einzelner Beispiele die typischen Reaktionsmuster der Polizei und ihrer Stakeholder, insbesondere der Gewerkschaften und der Politik, analysieren, um dann wiederum am Beispiel der Rassismus-Debatte eine angemessene Vorgehensweise anzubieten.
Der öffentliche Blick auf rassistische Praktiken der deutschen Polizei schärfte sich weniger aufgrund der oben zitierten Berichte auf Ebene der Europäischen Union bzw. der Vereinten Nationen. Auch zahlreiche Einzelfälle rassistischer Praktiken, die zum Teil auch in Rechtsprechung mündeten, zogen keine breitere öffentlichen Diskussion über die Polizei nach sich. Erst die zahlreichen Demonstrationen unter dem Motto „black-lives-matters“ in der Folge der Ermordung von George Floyd durch US-amerikanische Polizisten führten zu der öffentlich formulierten Frage, wie es um Rassismus in der deutschen Polizei bestellt sei. Zahlreiche Schwarze Menschen berichteten eindrucksvoll ihre Alltagserfahrungen, die von Medien und Politik aufgegriffen wurden.[3] Diese Berichte griff u. a. die SPD-Vorsitzende Esken auf, indem sie eine Untersuchung des „latenten Rassismus“ in der Polizei und seine Bekämpfung forderte.[4] Wegen ihrer eskalierenden Wirkung können schließlich die Journalistin Yaghoobifarah, die in einer TAZ-Kolumne Polizisten mit Abfall verglich und Bundesinnenminister Seehofer, der die Journalistin daraufhin mit einer Strafanzeige bedrohte, unerwähnt bleiben.[5] [6] Sowohl die Kolumne als auch die Drohung mit einer Strafanzeige dienten im weiteren Verlauf der Diskussion ausschließlich als Munition zur Untermauerung der jeweils eigenen Position. Das eigentliche Thema, die rassistischen Praktiken der Polizei, ihre Strukturen und die damit einhergehenden Diskriminierungen, geriet leider zunehmend in den Hintergrund. Meines Erachtens lässt sich aus dem Verlauf der Diskussion ein Muster rekonstruieren, das regelmäßig zu beobachten sind, wenn Polizei sich öffentlicher Kritik ausgesetzt sieht. Dieses werde ich im nächsten Schritt beschreiben.
Das Muster besteht im ersten Schritt darin, Kritiker*innen entgegenzuhalten, die Polizei würde einem Generalverdacht ausgesetzt, in diesem Fall dem Verdacht, rassistisch zu diskriminieren. Im Rahmen der aktuellen Rassismus-Debatte bat der GdP-Landesverband NRW die Fraktionen des nordrhein-westfälischen Landtags um Stellungnahme und diese positionierten sich wunschgemäß. Erstens distanzierten sie sich von der TAZ-Kolumne. Die CDU-Fraktion verwahrt sich darüber hinaus gegen eine vermutete Misstrauenspolitik, während die FDP gar die TAZ-Kolumne auf eine Stufe mit dem Berliner Antiddiskriminierungsgesetz stellt und die Polizei von pauschalen Rassismusvorwürfen linker Gruppierungen in Schutz nehmen will. Die FDP greift mit dem Verweis auf ‚links‘ zudem ein weiteres Feindbild der Polizei auf. Lediglich die Grünen sehen die Notwendigkeit, strukturelle Diskriminierung durch öffentliche Stellen zu diskutieren.[7]
Der Generalverdacht wird regelmäßig ins Feld geführt, so u. a. bei der Diskussion um das Berliner Antidiskriminierungsgesetz, bei der Diskussion um rechtsextreme Netzwerke in der Polizei sowie bei den Diskussionen um die Einführung von Kennzeichnungspflichten und unabhängigen Beschwerdestellen. Zudem wird im Zusammenhang mit dem Generalverdacht häufig auf das im Vergleich zu anderen Berufsgruppen hohe Vertrauen, das die Bevölkerung der Polizei entgegenbringt, verwiesen. So wird die Kritik selbst diskreditiert. Entweder wüssten die Kritiker*innen nichts über die Arbeit der Polizei oder sie wollten die Polizei bewusst in eine rassistische Ecke stellen (vgl. Schilff 2020:3).
Weiterhin wird die Unterstellung des Generalverdachts durch einen ausgeprägten Positivismus in dem Sinne gestützt, dass argumentiert wird, die Polizei habe aufgrund ihrer Expertise auf dem Feld der Sicherheit als einzige die Fähigkeit, einen Sachverhalt objektiv zu beurteilen und daraus abzuleiten, was als Wahrheit anerkannt werden kann. Wahr ist demnach nur, was Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelt und den Gerichten zur Beurteilung vorgelegt haben. Auf andere Weise erzeugtes Wissen, z. B. wissenschaftlich fundierte Forschung, wird demgegenüber konsequent abgewertet. So kritisierte neben vielen anderen der bayrische Landesvorsitzende der DPolG die Methodik der Studie zur rechtswidrigen Polizeigewalt von Tobias Singelnstein. Die Betroffenen zu fragen, würde lediglich subjektive Sichtweisen erzeugen. Oder um noch einmal den stellvertretenden Bundesvorsitzenden der GdP zum Umgang mit polizeilichem Fehlverhalten und zur Frage unabhängiger Ermittlungen zu zitieren: „Nach einem geordneten Verfahren erfolgen Konsequenzen, wenn nötig juristische, und das geschieht auch“ und „die notwendige Kontrolle wird durch den Gesetzgeber, die Staatsanwaltschaften und Gerichte gewährleistet.“ (Schilff 2020:3) Dabei besteht die Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten im Grunde zu einem großen Teil darin, die Sichtweisen von Beteiligten und Betroffenen zu erheben, zu deuten und für die weitere aktenmäßige Bearbeitung bis zum Gerichtsurteil zu vereindeutigen. Dass auf diesem Weg objektive Wahrheiten erzeugt werden, ist aus wissenssoziologischer und wissenschaftstheoretischer Sicht umstritten. Und dass Anklage- und Verurteilungsquoten im Zusammenhang mit polizeilichen Übergriffen seit Jahren ein vollständig anderes Bild vermitteln, wird geflissentlich ignoriert (vgl. Singelnstein 2013:18).
Unmittelbar verknüpft mit der Unterstellung des Generalverdachts wird schließlich der Verweis auf Einzelfälle, die ja angesichts ihrer hohen Zahl auch kaum zu leugnen sind. Beispiele für dieses Muster finden sich aktuell in gewerkschaftlichen Publikationen, z. B. „Niemand sollte aber verschweigen, dass es Fälle gibt, in denen Polizeibeschäftigte unverhältnismäßig handeln oder sich so äußern“ (Schilff 2020:3) und „Polizistinnen und Polizisten leisten, von wenigen Ausnahmefällen abgesehen, hervorragende Arbeit.“ (GdP-Flugblatt 2020), aber auch in behördlichen Publikationen. Ein weiteres Beispiel liefert der Präsident des Bundespolizeipräsidiums Romann, wenn er radikale und extremistische Verhaltensweisen, zu denen nach Lesart der Bundespolizei auch rassistische Beleidigungen zählen, als „absolute Ausnahmefälle“ bezeichnet (Bundespolizeipräsidium 2019). Ähnlich äußerte sich auch der hessische Innenminister Beuth, als er gemeinsam mit dem damaligen Landespolizeipräsidenten Münch die Ergebnisse eine internen Studie veröffentlichte: „Die Studie bestätigt uns deshalb in der Auffassung, dass es sich bei den rechten Verdachtsfällen in der hessischen Polizei um Einzelfälle handelt, in denen wir aber mit aller Konsequenz weiterermitteln werden.“[8] Knapp sechs Monate später zeigt sich, dass die Ermittlungen entweder nicht konsequent geführt wurden oder keinen Erfolg gezeitigt haben und Beuth kann angesichts der inzwischen bekannt gewordenen, mit NSU 2.0 gezeichneten Drohmails nicht mehr an der Einzelfallthese festhalten.[9]
Der Verweis auf Einzelfälle ist jedenfalls sehr gut geeignet, Fehlverhalten zu individualisieren und führt vor allem dazu, die Polizei als Organisation davon zu entlasten, sich und ihre Strukturen in Frage stellen. Die Polizei verweist gern darauf, dass kritische Themen in vielfältiger Form in Aus- und Fortbildung behandelt werden. Ausbildung und Training sowie der Eid, den alle Polizist*innen auf die Verfassung abgelegt haben, werden als Gewähr für eine Polizeiorganisation angesehen, die konsequent gegen eventuelle rechte, rassistische und diskriminierende Einstellungen ihrer Beschäftigten vorgeht bzw. gegen diese immun ist, denn so Schilff: „Das sind Menschen, die ein solides Demokratiebewusstsein entwickelt und die Prinzipien des Rechtsstaates verinnerlicht haben“ (2020:2). Hier zeigt sich dann wieder der Positivismus, der unterstellt, dass eine gute Ausbildung und der auf die Verfassung geleistete Eid, es schon richten werden. Zudem ignoriert Schilff die bereits oben angesprochene interne Studie der Polizei Hessen, nach der etwa 30,7 % der befragten Polizeibeschäftigten die Demokratie eben nicht uneingeschränkt als beste Staatsform sehen (vgl. Hess. Innenministerium 2020). Ein alarmierendes Ergebnis, zählt doch die Polizei, der das Gewaltmonopol des Staates mit den entsprechenden Eingriffsbefugnissen übertragen wurde, zu den Berufen, bei denen es eben nicht ausreicht, wenn die Mehrheit der Beschäftigten eine ordentliche Arbeit abliefert.
Das beschriebene Muster wird gelegentlich durch den Verweis auf die Polizeiarbeit in anderen Ländern ergänzt. So konnte man im Zusammenhang mit der black-lives-matter-Bewegung lesen und in persönlichen Gesprächen hören, die Strukturen seien in der US-amerikanischen Polizei ganz anders und, beginnend mit der Ausbildung, nicht mit den Strukturen der deutschen Polizei vergleichbar. Übersetzt soll das wohl heißen, in Deutschland sei es nicht so schlimm, und so ist es möglicherweise auch. Und es soll offensichtlich auch heißen, dass die deutsche Polizei es nicht nötig hat, sich mit Menschenrechtsverletzungen auseinanderzusetzen.
Was aus alledem deutlich wird: Das hier rekonstruierte Muster der Abwehr von Kritik versperrt den selbstkritischen Blick auf die eigene Organisation und insbesondere auf die eigene Praxis. Es konstruiert die Polizei als Opfer, das in Schutz genommen werden muss und es verhindert die notwendige professionelle Auseinandersetzung mit Kritik. Es verhindert, um bei der aktuellen Diskussion um Rassismus zu bleiben, die notwendige Auseinandersetzung darüber, wie die Polizei in ihrer Alltagspraxis rassistische Diskriminierungen möglichst vermeiden kann.[10] Die Polizei läuft damit Gefahr, eine ihrer wichtigsten Funktionen, den Schutz von Menschenrechten, nicht gegenüber allen Teilen der Bevölkerung in gleicher Weise zu erfüllen. Indem sie sich gegen Kritik abschottet, verliert sie auf Dauer ihre Professionalität. Im Folgenden möchte ich am Beispiel des Rassismusvorwurfs zeigen, wie eine professionelle Auseinandersetzung stattfinden könnte.
Im ersten Schritt ginge es für die Polizei darum, in der Polizei Wissen über Rassismus und Institutionellen Rassismus zu erzeugen. Rassismus ist zunächst einmal kein Alleinstellungsmerkmal von Rechtsextremisten, sondern weit in den meisten Gesellschaften verbreitet. Rommelspacher (2001:25) argumentiert im Anschluss an Stuart Hall, dass es beim Rassismus darum geht, Unterschiede zu markieren, die dazu benötigt werden, bestimmte Gruppen durch soziale, wirtschaftliche oder politische Handlungen von materiellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen bzw. anderen Gruppen Privilegien zu verschaffen. Die jeweiligen Gruppen werden dabei aufgrund willkürlicher Kriterien, wie Herkunft, Haar- oder Hautfarbe, gebildet. Damit wird Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis verstanden und nicht lediglich als unbegründetes Vorurteil. Im Kontext des Kolonialismus wurde die schwarze Bevölkerung als „minderwertig“ definiert, um ihre Ausbeutung und Versklavung zu legitimieren, was notwendig war, weil in Europa zu selben Zeit bürgerliche Revolutionen stattfanden und die Erklärung der Menschenrechte geschrieben wurde. Heute ist es wichtig zu verstehen, dass das im Zuge des Kolonialismus erzeugte rassistische Wissen nach wie vor in der Gesellschaft, in jeder Institution, Organisation und in jeder einzelnen Person vorhanden ist und dass die Konstruktion rassistischen Wissens über Andere nicht nur über biologische Merkmale, sondern beispielsweise auch über Religion oder Kultur erfolgt. Beispielhaft hierfür stehen die Diskurse über Orientalismus und antimuslimischen Rassismus in Deutschland und das Wissen, das Generationen aus den Schriften von Karl May, 1000 und einer Nacht oder Peter Scholl-Latours Sachbüchern bezogen haben (vertiefend hierzu Attia 2011:146 ff.).
Auf der einen Seite verfügen wir also über rassistisches Wissen, das unsere Sichtweisen unvermeidlich prägt. Auf der anderen Seite sind weiße westeuropäische Menschen sich der Privilegien, die sie durch Abwertung anderer erfahren, kaum bewusst. Beispielsweise wird kaum ein weißer Mann oder eine weiße Frau im Alter zwischen 40 und 60 Jahren berichten können, ohne offensichtlichen Anlass von der Polizei angehalten worden zu sein. Weiße Menschen teilen auch nicht die Erfahrung, an Gaststätten abgewiesen zu werden. Sie werden auch nicht gefragt, warum sie so gut Deutsch sprechen oder woher sie genau kommen. Sie werden sich ebenso wenig fragen, warum sie die Wohnung oder den Arbeitsplatz bekommen haben. In Folge dessen werden sie sich wohl kaum als „Rassismusgewinner“ verstehen, obwohl ihr Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen durch die Abwertung anderen Menschen begünstigt wurde.
Es geht also nicht darum zu begründen, warum man kein Rassist ist, sondern vielmehr, über das Verständnis von Rassismus im Alltag ein Verständnis der eigenen Privilegien zu gewinnen und sich der damit verbundenen Ausgrenzungen anderer aufgrund historisch bedingter Macht- und Herrschaftsprozesse bewusst zu werden.
Im zweiten Schritt ginge es darum, dieses Wissen auch auf polizeiliche Organisationen anzuwenden. Ihre Mitglieder verfügen über rassistisches Wissen, das über die Mitgliedschaft zu organisationalem Wissen wird und tagtäglich Entscheidungen in polizeilichen Organisationen beeinflusst. Frank Olaf Radtke (2015) zitiert die MacPherson-Kommission, die im Jahr 1999 das Versagen der englischen Polizei bei der Aufklärung eines Mordes an einem schwarzen Jugendlichen untersuchte. Sie benennt „das kollektive Versagen einer Organisation, Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft mit einer angemessenen und professionellen Dienstleistung zu versorgen“ als ‚Institutionellen Rassismus. Dabei geht es ausdrücklich nicht um individuelles (Fehl-)Verhalten, „falsche Einstellungen“ einzelner Akteure, sondern um gültige Konventionen, tradierte Praktiken, eingeübte Gewohnheiten, die von allen Organisationsmitgliedern selbstverständlich befolgt werden. Die MacPherson-Kommission stellt ausdrücklich nicht auf formale Strukturen der Organisation ab, wie wir sie in Erlassen, Verfügungen oder Curricula der polizeilichen Studiengänge finden, auf die Schilff (2002:2) sich bezieht. Gemeint sind vielmehr unhinterfragte alltagspraktische Abläufe, wie beispielsweise Personenkontrollen aufgrund der Haut- oder Haarfarbe oder, um eines der bekanntesten Beispiele zu zitieren, das Bezeichnen von Ermittlungsgruppen und Sonderkommissionen, das im Organisationsalltag die Funktion hat, den Blick der Ermittelnden zu lenken.[11] So „wurden die NSU-Morde als „Döner-Morde“ bezeichnet und die Ermittlungen unter dem Namen „Soko Bosporus“ geführt. Die Art und Weise, in der ermittelt und berichtet wurde, lässt Fragen offen: Anstatt sachdienlichen Hinweisen auf die Täterinnen und Täter zu folgen, wurden die Opfer als Teil einer Gruppe wahrgenommen, die ihre Konflikte mit Gewalt löst, die Taten werden „Türken“ zugeschrieben.“ (Attia 2014:1). Entscheidend und fatal waren die inzwischen bekannten Folgen dieser Bezeichnungspraxis für die Ermittlungen. Das Wissen über „die Anderen“ führte dazu, dass die Täterinnen und Täter lange unerkannt bleiben und ihre Mordserie fortsetzen konnten, während die Hinterbliebenen und Opfer zu Tatverdächtigen konstruiert wurden (vgl. Attia 2014:12).
Auch hier hilft Pauschalabwehr nicht weiter. Vielmehr gilt es sich der handlungsleitenden Wirkungen informaler Strukturen (vgl. oben MacPherson) bewusst zu werden, insbesondere, wenn es darum geht, Menschenrechte zu gewährleisten, statt sie zu verletzen und allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen eine professionelle Dienstleistung anzubieten.
Im Anschluss an Melter (vgl. 2011:280) kann Alltagsrassismus auf drei Ebenen beobachtet und analysiert werden: Auf interaktiver Ebene, wenn es um die Frage geht, wie sich Angehörige unterschiedlich konstruierter Gruppen in privaten und öffentlichen Räumen begegnen. Auf institutioneller Ebene, wenn es darum geht, wie Organisationen Angehörige unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zulassen bzw. sie mit Dienstleistungen versorgen und auf gesellschaftlicher Ebene, wenn es um den Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen, wie Geld, Arbeit oder Bildung geht. Während der Einfluss polizeilicher Organisationen auf gesellschaftlicher Ebene eher als mittelbar einzustufen ist, haben sie doch auf institutioneller Ebene sowie auf die Art und Weise, wie ihre Beschäftigten miteinander und mit den unterschiedlichen Anspruchsgruppen interagieren, unmittelbaren Zugriff und Gestaltungsmöglichkeiten.
Auf institutioneller Ebene sollte es zunächst darum gehen, organisationales rassistisches Wissen und seine Wirkungen auf polizeiliche Dienstleistungen sichtbar zu machen. Dazu ist eine anerkannte wissenschaftliche Studie zum Rassismus geradezu unverzichtbar. Zum einem wäre diese geeignet, die aufgeladene Debatte zu versachlichen und zum anderen wären ihre Ergebnisse ein geeigneter Ausgangspunkt für die notwendigen Diskurse, die innerhalb der Polizei, aber auch zwischen der Polizei und den Betroffenen bzw. ihren Vertreter*innen anzustoßen wären. Die wichtigste Funktion einer solche Studie läge m. E. darin, dass sie die Verwobenheit zwischen rassistischem Wissen und dem oftmals handlungsleitenden sogenannten polizeilichen Erfahrungswissen offenlegen könnte. Damit böte sie die Möglichkeit, dieses Erfahrungswissen reflexiv auf den Prüfstand zu stellen und kritisch weiterzuentwickeln.
Eine derartige Studie könnte anerkannt sein, wenn sie von unabhängigen Forscher*innen konzipiert und durchgeführt würde, die ihrerseits sowohl die Perspektiven der Polizei auf ihre Arbeit als auch die Perspektiven der von dieser Arbeit Betroffenen bei Konzeption und Durchführung der Studie einbeziehen.
Auf institutioneller Ebene muss es auch darum gehen, formale Strukturen daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie möglicherweise auf (verstecktes) rassistisches Wissen zurückgeführt werden können, z. B. Lagebilder, die Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen eine höhere Delinquenz zuschreiben, Meldepflichten über Kontrolltätigkeiten oder wie oben beschrieben Bezeichnungspraktiken, die dazu beitragen, den Blick der Ermittler*innen entsprechend zu lenken. Zudem wäre es wichtig, Verfahren zu entwickeln, die es ermöglichen, polizeiliche Entscheidungsprozesse, Abläufe und Vorgehensweisen rassismuskritisch zu gestalten.
Auf institutioneller Ebene geht es auch darum, die Aus- und Fortbildungsangebote, die geeignet sind, rassismuskritische Inhalte zu vermitteln, auszubauen.[12] Es gilt jedoch auch, die Praxis der Lehre und der Fortbildung in den Blick zu nehmen. Mit welchen Beispielen arbeiten Lehrende in der Einsatzlehre oder in der Kriminalistik und welches Wissen wird dort möglicherweise reproduziert und verfestigt. Wenn beispielsweise in einem Fall zur Eigensicherung der Sachverhalt für die Studierenden so formuliert wird, dass eine südländisch aussehende Person auf einem Parkplatz zwischen den Autos hin- und hergeht und überprüft werden soll, schließt diese Praxis der Lehre unmittelbar an rassistisches Wissen der Studierenden an und trägt dazu bei, dass es verfestigt und nach dem Studium in die Praxis übernommen wird.[13] Ähnliche Sachverhalte lassen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in anderen Fächern finden.
Das bloße Verweisen auf die sehr gute Ausbildung, die Polizeibeschäftigten hierzulande geboten wird, war schon immer unzureichend. Die meisten Lehrenden an polizeilichen Bildungseinrichtungen kennen das Phänomen: Studierende kommen aus ihrem ersten Praktikum und berichten davon, wie (anders) es in der Praxis läuft. Während dieses ersten Praktikums trifft offiziell gewünschtes Wissen, wie es u. a. im Studium vermittelt wird, auf informelles Wissen darüber, wie man erfolgreich den schwierigen polizeilichen Alltag bewältigt, und das informelle Wissen setzt sich in den meisten Fällen durch. Insofern gilt es eben diesen Alltag in den Blick zu nehmen, indem auf der interaktiven Ebene die Alltagspraktiken verändert werden.
Auf der interaktiven Ebene können formale Strukturen geeignet sein, rassistische Praktiken zu verändern, wenn man daran denkt, bei Personenkontrollen zu dokumentieren, welches Verhalten der Betroffenen Anlass für die jeweilige Kontrolle war. Gerade dieses Beispiel zeigt allerdings, dass es nicht einfach ist, die Praxis zu verändern. Eine Dokumentationspflicht einzuführen, garantiert noch nicht, dass diese auch im Sinne der Vorschrift gehandhabt wird. Formale Strukturen und Alltagspraxis sind so miteinander gekoppelt, dass die Einführung einer neuen Regel einen neuen Umgang mit der Regel nach sich zieht, dass sich also eine andere Praxis entwickelt. Damit ist noch nicht gesagt, dass es sich um die gewünschte menschenrechtskonforme Praxis handelt (siehe vertiefend hierzu: Heidemann 2020:106f.). An dieser Stelle kommt Führung ins Spiel.
Eine der zentralen Funktionen von Führung in Organisationen ist die Bearbeitung von widersprüchlichen Erwartungen zwischen formalen Strukturen und den Anforderungen der Alltagspraxis. Wenn Führungspersonen diese Widersprüche wahrnehmen, können sie durch Entscheidungen und Bewertungen Handlungssicherheit erzeugen. Anlässe dafür können neben der konkreten Aufgabenwahrnehmung beispielsweise auch Besprechungen oder Unterhaltungen sein, in denen abwertende Bemerkungen oder Kommentare abgegeben werden. Führung ist aufgrund ihrer hierarchischen Position am Zug, wenn es darum geht, die Agenda zu bestimmen. Sie kann Themen setzen und beispielsweise Diskursräume auf unterschiedlichen Ebenen schaffen, damit die Sichtweisen der Betroffenen auch in der Polizei gehört werden.
Allerdings ist es nicht garantiert und auch nicht formal zu regeln, dass Führungskräfte diese Funktion auch tatsächlich erfüllen. Wie wäre sonst die lange Liste der Sympathiebekundungen für Neo-Faschisten, das Tragen oder das Zeigen von Abzeichen und wie ließe sich die lange Liste ethnischer Diskriminierungen zu erklären (vgl. LT Baden-Württemberg 2020)? Führungskräfte, die solche Abweichungen offen thematisieren, setzen sich möglichweisen Konflikten aus, die ihren Alltag schwieriger machen. Unter Umständen ist das Thematisieren von Abweichungen auch widersprüchlich, wenn Führungskräfte die Praxis, die sie nun kritisieren, selbst mitgestaltet haben. (vgl. Heidemann 2020:113). Es gilt deshalb, Führungspersonen auf allen Ebenen zu ermutigen, sensibel zu beobachten und schon im Vorfeld klar und deutlich gegen Rassismus und Diskriminierungen jeglicher Art Position zu beziehen. Führungspersonen auf allen Ebenen müssen zeigen, dass es Ihnen ernst ist. Die Verantwortung dafür liegt bei den Innenminister*innen, den Polizeipräsident*innen, den Dienststellenleitungen und vor allem auch bei den unmittelbaren Vorgesetzten.
Die Polizei kann in ihrem Arbeitsalltag möglicherweise nicht immer gut im Sinne des Titels „Wir sind die Guten“ sein. Sie muss es auch nicht. Sie muss jedoch akzeptieren, dass sie als Trägerin des Gewaltmonopols mit weitreichenden Eingriffsrechten in das Leben der Menschen ausgestattet ist und dass sie deshalb zu Recht unter Beobachtung steht. Und sie muss sich im Sinne einer Professionalisierung mit Kritik angemessen auseinandersetzen, um besser zu werden und Menschenrechte für alle durchzusetzen, denn genau darin liegt die Legitimation der Polizei einer offenen Gesellschaft.
[1] Vgl. https://www.dezim-institut.de/institut/rassismusmonitor/ (Öffnet in einem neuen Tab), 14.7.20
[2] Am 20.7.20 fordert Seehofer angesichts der vorangegangenen Krawalle am Frankfurter Opernplatz eine Studie zur Gewalt gegen die Polizei, obwohl diese verboten ist und daher eigentlich gar nicht stattfinden kann.
[3] Schwarze Menschen ist eine Selbstbezeichnung und beschreibt eine von Rassismus betroffene gesellschaftliche Position. "Schwarz wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und keine reelle" Eigenschaft", die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist. So bedeutet Schwarz-Sein in diesem Kontext nicht, einer tatsächlichen oder angenommenen 'ethnischen Gruppe' zugeordnet zu werden, sondern ist auch mit der gemeinsamen Rassismuserfahrung verbunden, auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen zu werden." (https://www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-sprache, 26.7.20.
[4] Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-06/saskia-esken-spd-polizei-rassismus, 14.7.20
[5] Vgl- https://taz.de/Abschaffung-der-Polizei/!5689584/, 14.7.20 und vgl. https://www.bild.de/politik/2020/politik/nach-polizei-kolumne-horst-seehofer-erstattet-strafanzeige-gegen-taz-kolumnistin-71416198.bild.html, 14.7.20.
[6] M. E. haben weder Yaghoobifarah noch Seehofer mit Ihren Beiträgen der Diskussion einen Dienst erwiesen. Ich verzichte auf hier lediglich auf eine ausführlichere Kommentierung, um nicht vom eigentlichen Thema abzulenken.
[7] Die Antwort der SPD bezieht sich ausschließlich auf den indiskutablen Sprachgebrauch der TAZ-Kolumne.
[8]Vgl. https://innen.hessen.de/presse/pressemitteilung/ergebnisse-der-umfrage-zur-hessischen-polizeistudie-praesentiert, 28.7.20. (mittlerweile gelöscht)
[9] Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-07/nsu-2-0-hessen-innenminister-peter-beuth-rechtsextremismus-polizei, 25.7.20
[10] Ein Beispiel für eine konstruktive Herangehensweise liefert der niedersächsische Innenminister Pistorius mit seinem Bemühen um eine Rassismus-Studie im Verbund mehrerer Bundesländer (vgl. https://www.tagesschau.de/inland/pistorius-polizei-rassismus-101.html, 25.7.20.
[11] Wenn es auf diese Orientierungsfunktion nicht ankäme, könnte man die Ermittlungsgruppen auch nummerieren, wie es teilweise auch gehandhabt wird.
[12] In dem Kontext sind auch Projekte zur politischen Bildung in der Polizei zu erwähnen.
[13] Das Beispiel wurde mir so aus einer Fachhochschule berichtet.
Literatur
- Attia, I. (2014): Rassismus (nicht) beim Namen nennen, APuZ 13-14, S. 12.
- Attia, I. (2011). Diskurse des Orientalismus und des antimuslimischen Rassismus. In Rassismuskritik (2. Aufl., Bd. 1, S. 146–162). Wochenschau Verlag.
- Bundespolizeipräsidium (2019): Umgang mit Radikalisierung und Extremismus (RADEX), 1. Auflage 2019, Potsdam.
- ECRI. (2020). ECRI-Bericht über Deutschland (sechste Prüfungsrunde). Council of Europe. Abgerufen am 25.7.20 von,
https://rm.coe.int/ecri-report-on-germany-sixth-monitoring-cycle-german-translation-/16809ce4c0. - Decker, O., Brähler, E., & Baier, D. (Hrsg.). (2018). Flucht ins Autoritäre: Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft: die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018 (Originalausgabe). Psychosozial-Verlag.
- Heidemann, D. (2020). Fehler macht man (am besten) nur einmal! Eine organisationssoziologische Perspektive auf das Lernen aus Fehlern in der Polizei. In C. Barthel (Hrsg.), Managementmoden in der Verwaltung (S. 93–117). Wiesbaden.
https://doi.org/10.1007/978-3-658-26530-4_4. - Landtag Baden-Württemberg, Drucksache 16/8247 vom 10.06.20.
- Melter, C. (2011). Rassismusunkritische Soziale Arbeit? Zur (De-)Thematisierung von Rassismuserfahrungen Schwarzer Jugendlicher Deutscher in der Jugendhilfe(forschung). In Rassismuskritik (2. Aufl., Bd. 1), S 277-292.
- Radtke, F.-O. (o. J.). Rassismus im System, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Abgerufen 13. Juli 2020, von
https://www.blaetter.de/ausgabe/2015/juli/rassismus-im-system?print#_ftn5. - Rommelspacher, B. (2011). Was ist eigentlich Rassismus? In Rassismuskritik (2. Aufl., S. 25–38). Wochenschau Verlag, S. 25-38.
- Schilff, D. (2020): Pauschalitäten vermeiden – konstruktiv reflektieren (Kommentar), in: Deutsche Polizei, Heft 7, Hilden, S. 2-3.
- Singelnstein, T. (2013). Körperverletzung im Amt durch Polizisten und die Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften – aus empirischer und strafprozessualer Sicht. Neue Kriminalpolitik, 15–27.
- Zick, A., Küpper, B., Berghan, W., Schröter, F., & Verlag J. H. W. Dietz Nachf. (2019). Verlorene Mitte - feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018.
Informationen zum Autor
Dirk Heidemann (mailto:Dirk.HeidemannDHPolde) war von 2012 bis 31.03.2022 Leiter der Fachgebiets I.1 „Führung in der Polizei“ bei der Deutschen Hochschule der Polizei. Er lehrte und forschte dort zur Weiterentwicklung der Führung in der Polizei. Zuvor hatte er unterschiedliche Führungsfunktionen im höheren Dienst der Polizei des Landes Niedersachsen inne.
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