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Sehen und gesehen werden! Zur Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Fundierung der Führung in der Polizei.[i]

Von Dirk Heidemann
 

 
Einleitung
 
Sehen und gesehen werden. Polizist|innen denken bei diesem Motto möglicherweise als erstes an ihre Unterrichtungen in der Verkehrssicherheitsarbeit, in denen es um das Vermeiden von Verkehrsunfällen aufgrund unzureichender Beleuchtung geht. Über diesen Anwendungsbezug hinaus handelt es sich auch um eine Redensart, mit der Praktiken anlässlich gesellschaftlicher Anlässe beschrieben werden. Ob es sich dabei um festliche Bälle, Theaterpremieren, Preisverleihungen oder Sportveranstaltungen geht, macht dabei keinen Unterschied: Immer wird beobachtet, wer überhaupt teilnimmt, wer sich dort zeigt, wer mit wem spricht, wer in der ersten Reihe sitzt, für wen ein Platz reserviert wurde oder wer auf die hinteren Plätze verwiesen wurde. Solche Anlässe gibt es auch in der Polizei. Als prominentes Beispiel kann die Herbst-Tagung des Bundeskriminalamts für die Kriminalist|innen dienen. Weniger prominent, aber nicht weniger bedeutungsvoll, sind landesinterne Tagungen oder die Abschlussveranstaltungen des Studiengangs an der Deutschen Hochschule der Polizei. Was man bei diesen Anlässen beobachten kann, sind Rang- und Statuskämpfe in und zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, in denen die Akteur|innen um Einfluss und Bedeutung ringen.[ii] Am Ende geht es darum, in den jeweiligen Bereichen Wirkung zu erzielen, um die eigene Position zu festigen oder gar auszubauen.
Ich möchte in diesem Beitrag zeigen, dass „Sehen und gesehen werden“ auch für polizeiliche Führungspersonen und die Verantwortlichen für Lehre und Fortbildung im Bereich Führung in ihrem Arbeitsalltag relevant ist und dass eine wissenschaftlich fundierte Bildung unabdingbare Voraussetzung dafür ist, zu sehen und gesehen zu werden. Lehrende im Bereich Führung an der Deutschen Hochschule der Polizei, wie auch an den Hochschulen des Bundes und der Länder, sind verantwortlich für Inhalt und Gestaltung ihrer jeweiligen Studiengänge und setzten damit den Rahmen, in dem Studierende künftig in ihrer Praxis über Führung nachdenken. Führungspersonen wirken in der Alltagspraxis mittels inhaltlicher Setzungen auf die Wahrnehmung von Sicherheitsproblemen ihrer Mitarbeitenden und (mittelbar) auf die Wahrnehmung der Polizei durch Bürger|innen. Auf der Grundlage dieser Annahmen möchte ich auf die folgenden Aspekte eingehen: Im ersten Schritt analysiere ich die Relevanz von Theorie jeweils für (angehende) Führungspersonen und Lehrende bzw. das Fachgebiet „Führung in der Polizei“(1). Im zweiten Schritt folgt eine Beschreibung der Situierung von Lehrenden und Führungspersonen zwischen gesellschaftlich relevanten Feldern (2). Schließlich werde ich zeigen, dass sich sowohl Führungspersonen als auch Lehrende im Bereich Führung der Herausforderung stellen müssen, Grenzbereiche zwischen den Feldern zu bearbeiten (3). Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (4).
 
 
 
1. Zur Relevanz von Theorie
 
Die Ausbildung von Führungspersonen an der Deutschen Hochschule der Polizei ist generalistisch angelegt.[iii] Führungspersonen, so die Annahme, werden durch die Ausbildung in die Lage versetzt, sämtliche oder zumindest viele Führungspositionen im höheren Polizeidienst wahrzunehmen. Es geht weniger um spezifisches Fachwissen als um das Entwickeln einer Problemlösungskompetenz, die in unterschiedlichsten Führungssituationen angewendet werden soll. Dieser Leitgedanke ist einerseits angesichts der weiter zunehmenden Differenzierung polizeilicher Aufgaben und der zunehmend erforderlichen spezifischen Expertise für deren Bewältigung plausibel und wird durch das Paradigma der Verwendungsbreite, dem die polizeiliche Personal- und Karriereplanung überwiegend folgt, zusätzlich gestärkt. Andererseits bewirkt dieser Leitgedanke auf Seiten der angehenden Führungspersonen eine gewisse Verunsicherung und sie stellen sich die Frage, ob das im Studium erworbene Wissen angesichts der vielfältigen und anspruchsvollen Praxis ausreichen wird, um als anerkannte Führungsperson im höheren Polizeidienst wahrgenommen zu werden.[iv]Immerhin können viele Studierende sich auf umfangreiche Führungserfahrung aus Funktionen des gehobenen Dienstes stützen und dort waren sie als Leistungsträger|innen anerkannt. Analog zu anderen Studiengängen, z.B. der Medizin oder für das Lehramt, beginnt nach dem Studium eine neue Zeitrechnung: Aus Leistungsträger|innen des gehobenen Dienstes Anfänger|innen im höheren Dienst und die Frage, ob und wie sie von Mitarbeitenden, Vorgesetzten oder externen Kooperationspartner|innen gesehen werden, muss erst noch beantwortet werden. Und es muss sich erweisen, dass die Führungspersonen (sich) selbst sehen, ihre Mitarbeitenden, ihre Organisation und deren Umfeld. Dass wissenschaftliches Wissen, dass wissenschaftliche Theorien einen maßgeblichen Beitrag zur Professionalisierung leisten können, zeige ich im nächsten Schritt.
 
Theorie (wie auch Empirie) sind zunächst einmal Arbeitsprogramme der Wissenschaft, mit denen das Ziel verfolgt wird, methodisch gesicherte Erkenntnisse, z.B. über das Eintreten von Führungserfolg, zu gewinnen. Im Regelfall entstehen so überprüfbare Beschreibungen, die sich in wissenschaftlichen Diskursen der Kritik stellen müssen, um weiterentwickelt zu werden. Es geht für die Theorie also keineswegs um Praxistauglichkeit und damit auch nicht um Handlungsanweisungen oder gar Erfolgsrezepte im Sinne von „Geling-Garantien“, die in der Praxis bei richtiger Anwendung des Rezepts auf jeden Fall funktionieren (vgl. Luhmann 2011:473f.). Ihre Stärke bezieht die Theoriearbeit aus Zeit und Reflexion, denn sie ist im Gegensatz zur Praxis von konkretem Handlungsdruck entlastet. Die Praxis, verstanden als zweckgebundenes (berufliches) Alltagshandeln, steht also unter Handlungs- und Entscheidungsdruck. Wissen darüber wird in der gemeinsam gelebten alltäglichen Arbeit erworben, ohne dass dieser Lernprozess als solcher bewusst wahrgenommen wird („Warum das so ist, können wir nicht sagen, aber das wird hier so gemacht!“). So wird auch Führung in der Praxis gelernt: vom Chef und der Chefin, durch nachahmendes Lernen und zumeist unhinterfragt.
 
Ungeachtet der Unterscheidung von Theorie und Praxis, die - wie gezeigt - im Grunde wenig miteinander zu tun haben, setzen Führungslernende sowohl Führungsforschung als auch Lehrende unter einen besonderen Erwartungsdruck: Führungstheorien sollen in der Praxis funktionieren oder zumindest an diese anschlussfähig sein. Und Teilnehmende an einem Seminar über Führung wollen in der Regel dort erfahren, wie man richtig führt. Diese berechtigten Erwartungen werden aber zumeist enttäuscht, weil es angesichts der Vielschichtigkeit von Führungssituationen den one-best-way nicht gibt und vermutlich auch nie geben wird.[v]
Was aber können dann Führungstheorien für die Praktiker|innen leisten? Es klingt einfach und ist dennoch außerordentlich: Führungstheorien können Praktiker|innen lehren zu sehen. Ich möchte dies an einem Beispiel ins Bild setzen, das für die meisten Führungspersonen alltäglich erscheint, am Beispiel der Bearbeitung von Konflikten.[vi] Die Kenntnis und das darauf basierende Verständnis der Theorie sozialer Konflikte ermöglicht Führungspersonen in ihrem Alltag zu erkennen, ob ein Konflikt vorliegt und welcher Art er ist. Handelt es sich um einen Zielkonflikt, geht es um Ressourcen, Beziehungen oder gar um inhaltliche Fragen? Sie können ebenfalls sehen, in welcher Phase sich der Konflikt befindet und aufgrund dessen die passenden Interventionen entwickeln. Ist eine Einigung der Konfliktparteien untereinander noch möglich, bedarf es der Moderation oder ist gar der Einsatz von Positionsmacht vonnöten? Sofern Führungspersonen sehen können und aufgrund dessen den Konflikt erfolgreich bearbeiten, haben sie nicht nur das akute (Führungs-)Problem gelöst. Sie werden vom organisationinternen Publikum (den Mitarbeitenden) als wirkungsvolle Führungsperson wahrgenommen und gewinnen an Autorität („gesehen werden“). Die gewonnene Autorität ist wiederum eine der zentralen Ressourcen, wenn es darum geht, bei Mitarbeitenden Folgebereitschaft zu erzeugen, ohne die Führung nicht denkbar ist (vgl. Luhmann 1999:208).
Wenn es Führungspersonen also gelingt, (Führungs-)Theorie und (Führungs-)Praxis zueinander in Beziehung zu setzen, können sie Theorien als Sehhilfe nutzen, als Brille, durch die sie auf ihre Praxis schauen. Sie können aufgrund dessen ihre Urteilskraft stärken und daraus Begründungsfähigkeit gegenüber ihren Mitarbeitenden gewinnen. Und sie können ihre Praxis professionalisieren, im Sinne einer reflektierten (Führungs-)Praxis. Theorie kann auf diesem Wege nach und nach zu einem Werkzeug der Professionalisierung von Führungshandeln werden, das dann immer wieder angemessen an neue Führungssituationen angepasst werden kann.
 
Der Bildungsforscher Frank-Olaf Radtke fordert für die Ausbildung von Lehrer|innen ebenfalls eine wissenschaftliche Fundierung: „Künftige Professionelle bedürfen einer wissenschaftlichen Bildung, einer weit reichenden Kenntnis von Theorien, weil sie sonst nichts sehen, nicht unterscheiden und dann auch nicht entscheiden können; sie brauchen Theorien, weil sie sonst nicht wissen, warum sie etwas sehen und etwas anderes nicht.“ (Radtke 2000:2) Dieser Forderung müssen sich meines Erachtens auch polizeiliche Führungspersonen stellen, denn sie liefern ihren Adressat|innen (Mitarbeitenden, Bürger|innen), in ähnlicher Weise wie andere Professionelle, Deutungen von Lebenssituationen und sie treffen Entscheidungen, die unter Umständen erhebliche Auswirkungen für die Lebenspraxis ihrer Adressat|innen nach sich ziehen. Deshalb fordert Radtke (ebd.) zurecht, dass Professionelle auf Grundlage wissenschaftlichen Wissens, das Allgemeine im Besonderen erkennen können, also beispielsweise die Phasen eines Konfliktverlaufs, und dass sie aufgrund dessen angemessene Deutungen und Interventionen entwickeln, anstatt sich bloß auf (unhinterfragtes) Erfahrungswissen zu stützen. Es geht also um Beobachten („Sehen“), Verstehen, Gestalten und dann Reflexion der Erfahrungen, die mit den jeweiligen Deutungen und Interventionen gewonnen wurden (vgl. Baecker 2011:269).
 
Insbesondere die Reflexion, die voraussetzt, sich in der Führungsrolle immer wieder in Frage zu stellen, ist ohne Mühe nicht zu haben. Es braucht eine Lernhaltung, die in der Ausbildung entwickelt und in der Praxis etabliert wird (vgl. Barthel/Heidemann 2017:153). Ein Verzicht auf diese Anstrengung käme einem Verzicht auf Professionalität gleich und das angesichts komplexer Einsatz- und Führungssituationen, aber auch angesichts der besonderen Eingriffsrechte in Grundrechte von Individuen und deren Lebenspraxis, die beispielsweise davon bestimmt sein kann, in der Öffentlichkeit regelmäßig anlassloser polizeilicher Kontrolle ausgesetzt zu sein. Da die Polizei das Gewaltmonopol des Staates nach innen ausübt und deshalb zu den zentralen und unverzichtbaren demokratischen Institutionen zählt, leisten professionell agierende Führungspersonen an dieser Stelle aus gesellschaftlicher Perspektive gewichtige Beiträge zu einem friedlichen Zusammenleben und werden nicht zuletzt deshalb dafür auch angemessen besoldet.
 
Professionell handelnde Führungspersonen, die ihr Handeln an Menschen- und Bürger|innenrechten orientieren, leisten also nicht nur gesellschaftlich wichtige Polizeiarbeit, es gelingt ihnen auch eher ihr Führungshandeln zu legitimieren und so die Folgebereitschaft ihrer Mitarbeitenden zu gewinnen. Führung war schon immer auf Legitimation angewiesen, deren Begründungen sich vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels aber verändert und u.a. demokratisiert haben. In der Polizei der 1960er – 1980er Jahre lautete das Prinzip „Anordnung und Ausführung“ oder auch „Ober sticht unter“. Führungspersonen konnten sich auf ihr Amt berufen und ihre Führungshandlungen mittels Amtsautorität legitimieren. Es folgte in den 1980 – 1990er Jahren das Kooperative Führungssystem, dessen Autoren u.a. Beteiligung von Mitarbeitenden forderten und die sachlich-fachliche Überlegenheit der Vorgesetzten als Legitimationsgrundlage einführten. Spätestens seit den 2000ern, angesichts der zunehmenden Differenzierung der Aufgaben, der zunehmenden Vielfalt der Anforderungen an polizeiliches Handeln sowie der zunehmend speziellen Expertise der Mitarbeitenden, kann die sachlich-fachliche Überlegenheit bestenfalls in Einzelfällen und erst recht nicht die hierarchische Position der Legitimation von Führung dienen. Demgegenüber kann aktuell die professionelle Qualität des Führungshandelns für eine menschenrechts- und bürger|innenorientierte Polizei, Führung legitimieren. Wenn Mitarbeitende wahrnehmen, dass solches Führungshandeln im Kontext von Problemlösung und Entscheidung, von Orientierung und Organisationsentwicklung, von Positionierung der Organisation nach innen und außen, einen Unterschied macht, wenn es einen Beitrag leistet, dann kann diese besondere Expertise von Führungspersonen auch der Legitimation von Führungshandlungen dienen und Folgebereitschaft aus Seiten der Mitarbeitenden bewirken.
 
Die bisherigen Überlegungen sind nach meinem Dafürhalten auch für ein Fachgebiet „Führung in der Polizei“ aufgrund seiner Verantwortlichkeit für Inhalte und Methoden in der Ausbildung von Führungspersonen von Bedeutung, denn die Auswahl der Theorien, die der Lehre bzw. dem Führungshandeln zugrunde gelegt werden, ist weder für Führungspersonen noch für Lehrende beliebig. In der Alltagspraxis der Polizeiorganisationen hört man oft den Hinweis, dieses Projekt oder jenes Organisationsentwicklungsvorhaben werde wissenschaftlich begleitet. Damit soll zumeist eine besondere Qualität der Arbeitsweise kommuniziert, ggf. auch einer vorweggenommenen Kritik begegnet werden. Die Frage sollte eher lauten, welche Theoriekonzepte mit welchen Grundannahmen in das jeweilige Vorhaben eingebracht werden, denn wenn man Theorie als Brille versteht, kommt es darauf an, welche Gläser verwendet werden und wie diese geschliffen sind. Davon hängt ab, was man sieht und wie man aufgrund dessen handelt und deshalb ist auch die Auswahl einer wissenschaftlichen Begleitung nicht beliebig, will man sie nicht bloß als Feigenblatt verwenden. Aus denselben Gründen gilt es für ein Fachgebiet „Führung in der Polizei“ dem Wunsch nach Rezepten für erfolgreiches Führen und persönlich gefärbten Erzählungen aus und für die Praxis zu widerstehen und stattdessen immer wieder zu prüfen, welche Theorie als Brille für angehende Führungspersonen die passenden Gläser hat, wie Perspektivwechsel angeregt werden können, wie Reflexivität gefördert werden und wie die oben geforderte Lernhaltung bei Führungspersonen entwickelt werden kann. Die Auswahl der Theorien ist (nicht nur im Themenfeld Führung) entscheidend für Fragen, wie geführt wird, wie Führungspersonen z. B. in Einsatzlagen mit gesellschaftlich relevanten Fragestellungen umgehen und nicht zuletzt auch für die Frage, wie Kriminalität konstruiert wird (Stichwort Clan-Kriminalität).[vii]Die Auswahl der Theorien für die Lehre kann als Entscheidungsprämisse verstanden werden, die den Rahmen für Folgeentscheidungen der angehenden Führungskräfte in ihrer Praxis mitbestimmt.[viii] Den Blick auf das Fachgebiet und die Lehrenden werde ich im nächsten Schritt mit der Analyse seiner Situierung zwischen Wissenschaft und Praxis noch ein wenig vertiefen.
 
 
 
2. Zur Situierung zwischen Wissenschaft und Polizeiorganisation
 
Die Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol), die organisatorisch den Rahmen für das Fachgebiet „Führung in der Polizei“ setzt, wurde 2007 als auf den Polizeidienst ausgerichtete gemeinsame Hochschule des Bundes und der Länder gegründet (vgl. § 3 DHPolG). Ebenso gesetzlich geregelt ist das Zusammenwirken mit anderen Hochschulen und die Aufgabe, die Polizeiwissenschaft zu entwickeln (vgl. § 4 DHPolG) und damit unterscheidet die DHPol sich von anderen Hochschulen. Sie ist auf ein kleines und besonderes Berufsfeld ausgerichtet (den höheren Polizeidienst) und ihr wurde die Aufgabe zugewiesen, eine Wissenschaft zu entwickeln, die im wissenschaftlichen Feld bis dahin kaum vertreten war (die Polizeiwissenschaften). Von ihrem Selbstverständnis her will sie universitär sein, darauf weisen nicht nur die Türschilder der Professor|innen hin. Sie will „Leuchtturm“ sein und in der Sicherheitsforschung richtungweisend und relevant für den Erfolg polizeilicher Arbeit.[ix] Wie aber wurde und wie wird sie wahrgenommen? Aus Perspektive des wissenschaftlichen Feldes - so scheint es jedenfalls - häufig noch als Einrichtung unter polizeilicher Aufsicht bzw. unter Aufsicht der Innenressorts? Aus Perspektive der Polizeiorganisation als Ausbildungsstätte für den höheren Polizeidienst? Was sie sein kann, wird nach wie vor diskutiert, zuletzt in einer AG Statusfragen, die sich im Ergebnis vergeblich um die Klärung der Regeln für die Besetzung von Stellen mit polizeipraktischem Personal bemühte. Ungeachtet der Diskussion um ihren Status und ihre Autonomie ist die DHPol, will sie ihre Aufgaben erfüllen, angewiesen auf den Zugang („Sehen“) und die Wahrnehmung („Gesehen werden“) sowohlim wissenschaftlichen als auch im polizeilichen Feld.
In ähnlicher Weise lässt sich die Situierung des Fachgebiets „Führung in der Polizei“ beschreiben. Als polizeipraktisches Fachgebiet mit wissenschaftlichem Anspruch findet es sich zudem an der DHPol zwischen den polizeipraktischen und den akademischen Fachgebieten. Und es ist als Fachgebiet mit einer Reihe von Bezugsdisziplinen eingespannt zwischen Theorie und Praxis, die nicht nur in der Polizeiorganisation häufig als Gegensatz konstruiert werden. Ähnlich wie die Hochschule als Ganzes ist das Fachgebiet darauf angewiesen, im wissenschaftlichen Feld zu „sehen“, um die relevanten Bezugsdisziplinen und ihre Erkenntnisse für die Führung in der Polizei nutzbar zu machen. Und es ist darauf angewiesen „gesehen zu werden“, damit es im wissenschaftlichen Feld aufgrund von Publikationen, Tagungen, Kooperationen als Akteurin auch ernst genommen wird. Und damit es in der Polizei wahrgenommen wird, wenn es Themen setzt, Diskurse anregt und so auch in der Polizeiorganisation an der Entwicklung des Führungsverständnisses mitwirkt.[x] Bei alldem liegt der Erfolg nicht auf der Hand, weder für das Fachgebiet noch für die DHPol: Im wissenschaftlichen Feld gab es anlässlich der Gründung der DHPol keine Willkommensfeier und in der Polizeiorganisation wurden gerade die ersten Absolvent|innen des Masterstudiengangs kritisch beäugt, ob sie nicht „verkopfte Kunstprodukte“ eines ohne Not verwissenschaftlichten Ausbildungsgangs waren und als Führungspersonen für die Praxis nicht mehr tauglich.
 
Das Fachgebiet und die DHPol stehen also zwischen gesellschaftlich relevanten Feldern: Wissenschaften und Sicherheit. Im Feld der Wissenschaften geht es neben dem Streben nach Erkenntnis auch um Bedeutung und Relevanz und nicht zuletzt um Ressourcen, kurz darum „Gesehen“ zu werden (vgl. Rademacher 2007:57). Und im Feld der Sicherheit geht es keineswegs nur um Sicherheitsproduktion. In beiden Feldern bewegen sich mehr oder weniger machtvolle Akteur|innen, die in spannenden Auseinandersetzungen um Bedeutung und um Deutungsmacht ringen. Und um Missverständnissen vorzubeugen: Macht- und Konkurrenzkämpfe sind nicht einzuhegen oder gar zu vermeiden. Sie sind auch kein notwendiges Übel! Sie sind vielmehr Bedingung für Entwicklung in und zwischen den Feldern. In diesen Macht- und Konkurrenzkämpfen wird um die besten Theorien und Konzepte gerungen,[xi] z. B. wenn es darum geht, was in der Polizei zum Thema Führung als praxisrelevant und geeignet gedeutet wird. In diesem Spiel geht es um das Fachgebiet (ebenso wie für die DHPol) darum, sich zu positionieren, denn andernfalls, wird es von anderen Akteur|innen positioniert.
 
In einer ähnlichen Situation finden sich auch Führungspersonen, die Verantwortung für Organisationseinheiten tragen. Wenn sie beispielsweise eine Polizeidienststelle in einem ländlichen Bereich leiten, treffen sie auf Sichtweisen und Akteur|innen, die aufgrund der Logik und Regeln ihres jeweiligen Feldes und ggf. auch aufgrund ihrer eigenen beruflichen Sozialisation zu anderen Sichtweisen auf Polizeiarbeit kommen, als die ihnen vorgesetzte Behörde oder die Innenpolitik ihres Bundeslandes oder sie selbst und ihre Mitarbeitenden. Auch für sie gilt es, Stellung zu beziehen, um nicht selbst von anderen in Stellung gebracht zu werden.
 
 
 
3. Bearbeitung von Grenzbereichen
 
Was folgt nun aus der Analyse für Fachgebiet und für polizeiliche Führungspersonen? Es hat sich gezeigt, dass die Bearbeitung von Grenzbereichen eine der zentralen Funktionen für Fachgebietsleitungen und für Führungspersonen ist. Festzuhalten ist, dass die Bearbeitung von Grenzbereichen mit hohen Anforderungen an die Führenden verbunden ist. Hier gilt nicht nur die interne Hierarchie und hier geht es nicht bloß um adrettes Auftreten. Es gelten die Eintritts- und Spielregeln der jeweiligen Felder, die je nach Funktion, Managementebene und Umfeld die Felder zu identifizieren sind („Sehen“). Es geht maßgeblich darum, die Eintritts- und Spielregeln zu kennen, ihre Komplexität angemessen verarbeiten zu können und darum, die eigene Position zwischen den Grenzen zu erkennen. Was dabei hilft, ist eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung, die es ermöglicht, zu „sehen“ und zu verstehen. Was gesehen und verstanden werden kann, sind die benachbarten Felder mit ihren Akteur|innen und Regeln, Phänomene im Feld der Sicherheit und die Wirkung von Möglichkeiten, auf diese angemessen einzuwirken und nicht zuletzt die Rolle der Polizei im und zwischen den jeweiligen Feldern. Auf dieser Grundlage können die Grenzbereiche bearbeiten werden, um sie ggf. zu verschieben, um zusätzliche Gestaltungsräume zu erschließen, Grenzen zu öffnen und der eigenen Organisation Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen. Und manchmal geht es auch darum Grenzen zu schließen, um beispielsweise Zumutungen aus dem politischen Feld eine eigene professionelle, an Menschen- und Bürger|innenrechten orientierte Position entgegenzusetzen. Die Aufgabe ist anspruchsvoll, anforderungsreich und vor allem unverzichtbar für die Polizei einer offenen Gesellschaft. Sie kann aber auch ungemein zufriedenstellend für die Führungspersonen sein, die dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für das polizeiliche Wirken des eigenen Verantwortungsbereichs so zu gestalten, dass die Polizei insgesamt ihrer Funktion einer zentralen demokratischen Institution für alle Menschen besser gerecht werden kann.
 
 
 
4. Fazit
 
Die These dieses Beitrags lautete, die Führung in der Polizei sei wissenschaftlich zu fundieren. Gezeigt werden konnte, dass eine wissenschaftliche Fundierung für ein Fachgebiet Führung (und sicher auch für andere Fachgebiete der DHPol) Bedingung dafür ist, angemessene Theorien für die Führungsausbildung auswählen zu können („Sehen“) und zudem auch Bedingung dafür, im Feld der Wissenschaft die Anerkennung zu finden („Gesehen werden“), die es braucht, um auf Augenhöhe zu kooperieren und sich am Erkenntnisprozess zu beteiligen. In dem Sinne ist eine wissenschaftliche Fundierung auch Bedingung dafür in der Polizeiorganisation anschlussfähig zu bleiben („Gesehen werden“). Dabei kommt es meines Erachtens darauf an, dass Lehrende sich bewusst sind, dass ihre Auswahl an Theorien vorentscheidend für das spätere Handeln angehender Führungspersonen in ihrem Arbeitsalltag und ihre Positionierungen sein kann und dass sie Einfluss auf deren Fähigkeit zur kritischen Selbstbeobachtung nehmen (siehe folgender Absatz).
Für Führungspersonen ist eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung die Bedingung dafür, „sehen“ zu können und auf Grundlage dieses Sehens und Verstehens angemessene Führungshandlungen zu entwickeln, deren Wirkung zu beobachten und daraus einen reflexiven Prozess für sich selbst und für die eigenen Organisation im Sinne einer Professionalisierung im Führungsalltag abzuleiten. Wissenschaftliche Fundierung wird damit die Voraussetzung, „gesehen zu werden“, begründete Positionen zu vertreten und nicht zuletzt einer kritischen Selbstbeobachtung, deren Bedeutung gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Kritik der Polizei (Stichworte: Rassismus, Rechtsextremismus, polizeiliche Übergriffe und Diskriminierungen) endlich auch in der Polizei zugenommen hat. Reflexivität ist zudem eine Kompetenz von Führungspersonen und Organisationen [xii], die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungsprozesse in einer postmigrantischen Gesellschaft, mit weiter zunehmender sozialer Ungleichheit und zunehmenden sicherheitspolitischen, ökonomischen und ökologischen Unwägbarkeiten zu Recht von der Inhaberin des staatlichen Gewaltmonopols erwartet werden kann. Diese Reflexivität zu entwickeln, liegt in der Verantwortung von Führungspersonen mit einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung.
 
 

Endnoten:

[i]Die Idee für den Titel habe ich mir von Claudia Rademacher, aus ihrem Beitrag zur Implementierung der Polizeiwissenschaften „geliehen“.
[ii] Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat dieses Phänomen analysiert und zu seinem Konzept des sozialen Raums entwickelt (vertiefend hierzu siehe Barlösius 2006:90 ff.).
[iii] Der Beitrag zielt in vorrangig auf die Führungsausbildung an der DHPol. Die Argumentation ist m.E. in vielen Aspekten auch für die Führungsausbildung an den Fachhochschulen gültig, sofern dort Führungspersonen ausgebildet werden.
[iv] Vgl. hierzu Evaluationen des Masterstudiengangs zu Aspekten des Theorie-Praxis-Transfers bzw. zur Praxisorientierung der Lehre.
[v] Die Enttäuschung tritt auch ein, wenn die Lehrende sich der Praxis mit Checklisten und vereinfachten Modellen andienen. Dann allerdings erst, wenn die Seminarteilnehmer|innen versuchen, diese in ihrer Praxis anzuwenden.
[vi] Zur Frage, was man als professionelle Dienststellenleitung mit Hilfe von Theorien sehen kann, vgl. auch Barthel/Heidemann 2017: 137ff.
[vii] Zur Wirkung öffentlicher Aussagen von Politiker|innen und Polizeipräsident|innen auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung vgl. Rudolf 2022:233.
[viii] Vor diesem Hintergrund dieser notwendigen Professionalisierung des Führungshandelns habe ich in meiner Funktion als Fachgebietsleitung eine soziologische Perspektive verantwortet, welche den Fokus auf Wissen, Verstehen und kritische Selbstbeobachtung legt.
[ix] In der Gründungsphase der DHPol wurden die Leitungen der Fachgebiete „Polizeiwissenschaften“, „Einsatzlehre“ und „Führungslehre“ von den Verantwortlichen als Leuchtürme bezeichnet.
[x] Vgl. hierzu die Reihe der Publikationen, Tagungen und (Forschungs-)Kooperationen sowie den vom Fachgebiet initiierten Diskurs über das Kooperative Führungssystem der Polizei und seine Verankerung in der Polizeidienstvorschrift 100. Ein Ergebnis dieses Diskurses ist die AG Führung des UAFEK, die dieser im Zuge seiner Befassung mit der Frage der Weiterentwicklung polizeilicher Führungssysteme nunmehr dauerhaft eingerichtet hat.
[xi] In diesem Verständnis sind die besten Theorien und Konzepte jeweils diejenigen, die nachvollziehbarere und plausiblere Deutungen und Konstruktionen von Wirklichkeit ermöglichen.
[xii] Vertiefend zur Institutionellen Reflexivität, siehe Moldaschl (2016), allerdings eher mit Blick auf die Innovationsfähigkeit von Organisationen.

Literatur

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