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Timo Nagel
Die Polizei ist zweifelsfrei eine stark formalisierte Organisation. Abseits von Dienstvorschriften, Richtlinien und sonstigen Normen existieren jedoch auch in der Polizei sogenannte ungeschriebene Gesetze. Die alltagssprachliche Bezeichnung dieser als „ungeschrieben“ trifft insofern zu, als diese tatsächlich, zumindest in den meisten Fällen, nicht schriftlich festgehalten wurden. Über sie wurde nicht entschieden und in der Regel vermag man im Nachhinein nicht zu sagen, wann diese genau begonnen haben. Diese informale Seite der Polizei nimmt einen ebenso wichtigen Platz im Alltag der Organisation ein wie die formale. Um diese informale Seite soll es nun im Weiteren gehen. Dafür ist zunächst zu klären, was unter Informalität zu verstehen ist. Daraufhin wird an einem Beispiel erklärt, wie Informalität Wirkungen erzielen kann, die Formalität nicht zu leisten im Stande ist.
Organisationen sind nach Luhmannscher Definition solche sozialen Systeme, die auf Mitgliedschaft beruhen. So können sie eine Grenze zu ihrer sozialen Umwelt ziehen. Auf die Polizei gemünzt bedeutet dies, dass man Polizist*in sein kann oder eben nicht. Mit dem Eintritt in die Organisation unterwirft sich das Neumitglied gewissen Regeln. Die Nichteinhaltung dieser stellt unweigerlich den Fortbestand der Mitgliedschaft in Frage (vgl. Luhmann 1976: 38). Ein Beispiel dafür ist die Anerkennung der polizeiinternen Hierarchie. Widersetzt man sich den Anordnungen seines Vorgesetzten, so wird man es schwer haben, sich dauerhaft in der Polizei behaupten zu können. Doch bereits die Drohung „nur noch Dienst nach Vorschrift“ zu machen zeigt bereits, dass diese formalen Regeln nicht alle Vorgänge in und um eine Organisation herum abbilden können. Formale Regeln müssen eindeutig sein, damit sich ein Mitglied, welches sie befolgt, sich nicht zugleich richtig und falsch zur selben Zeit verhalten kann. Gleichzeitig kann diese formale Ordnung jedoch nicht alle zukünftigen Situationen abdecken, da die soziale Umwelt widersprüchliche und sich zudem ändernde Erwartungen an die Organisation heranträgt (vgl. Tacke 2015: 63f.). Einer Organisation, deren Mitglieder sich lediglich an die formalen Regeln halten, kann man, ohne dabei über eine übermäßig pessimistische Grundhaltung zu verfügen, ein baldiges Ende prophezeien. An dieser Stelle kommen informelle Praktiken ins Spiel.
Hierzu ein Beispiel aus den Niederlanden, wo es üblich ist, dass auch hochrangige Führungskräfte der Polizei im Innendienst mit ihrem Einsatzgürtel ausgerüstet sind. Obwohl diesbezüglich keine Vorschrift existiert und auch nicht von einer erhöhten Bedrohungslage der Beamten innerhalb der eigenen Organisation ausgegangen werden muss, hat sich diese Praxis etabliert. Da nun aber weder eine formale Vorschrift vorliegt, noch der Selbstschutz als Grund dafür hervorgebracht werden kann, stellt sich die Frage, worin dieses Vorgehen stattdessen begründet liegt. Dafür lohnt es sich, einen Blick auf die zwei unterschiedlichen Kulturen der „Street Cops“ und der „ Management Cops“ zu werfen, die in der Polizei vorherrschen (vgl. Reuss-Ianni / Ianni, 2005). Beide Kulturen sind durch das Ziel geprägt Kriminalität zu bekämpfen sowie für Sicherheit zu sorgen. „Street Cops“ jedoch beschützen das Recht vor Ort beziehungsweise auf lokaler Ebene, wobei sie durch die Begegnung mit der harten Wirklichkeit außerhalb des Polizeigebäudes erkennen müssen, dass Flexibilität stärker gefordert ist als vorbereitete Lösungen. „Management Cops“ hingegen, zu denen man auch die hochrangigen Führungskräfte zählt, sehen sich dagegen mit Kriminalität auf einer anderen Ebene konfrontiert. Sie müssen an dieser Stelle lokale Probleme in Verhältnis zu anderen setzen, um so über die Verteilung der polizeilichen Ressourcen entscheiden zu können. Ihr Blick ist in dieser Hinsicht weiter gefasst.
Man kann im Tragen des Einsatzgürtels eine symbolische Funktion sehen. Hiermit können die „Management Cops“ zeigen, dass sie nach wie vor operativ tätig sind und auch die „Street Cop Culture“, der sie einmal selbst folgten, nicht vergessen haben. Man kann hier demgemäß den Versuch erkennen, eine Brücke zu schlagen zwischen diesen beiden Kulturen. Die Praxis der niederländischen Beamten sich auch im Innendienst zu bewaffnen ist nicht allzu überraschend informaler Natur, denn Kulturen sind diejenigen Erwartungen über die nicht entschieden wurde. Wäre das Tragen des Einsatzgürtels eine formale Pflicht, so wäre es nur schwerlich als Zeichen der Verbundenheit der „Management Cops“ zu den „Street Cops“ interpretierbar. Die informale Praxis lässt es zu, die Bewaffnung als eigene Entscheidung der Führungskräfte darzustellen. Liegt hingegen eine formale Vorgabe vor, würde man diejenigen als Entscheider betrachten, die diese Vorschrift durchgesetzt haben. Höchstens das Verzichten auf das Tragen des Einsatzgürtels wär als eine eigene Entscheidung der Führungskräfte zu sehen. Nur durch die kommunizierte Freiwilligkeit kann die Bewaffnung als Symbol funktionieren. Die Betonung liegt hierbei auf dem Adjektiv „kommuniziert“. Es kann durchaus der Fall sein, dass einzelne Personen den Einsatzgürtel faktisch nicht freiwillig tragen, da dies von ihnen abseits von Vorschriften erwartet wird. Es wäre aber erklärungsbedürftig sich offen darüber zu beschweren, da es ja keine formale Pflicht ist. Alles in allem lässt die starke Formalisierung der Polizei nicht darauf schließen, dass Informalität eine geringere Rolle spielt als in weniger formalisierten Systemen. Eine Sensibilisierung der aktuellen und angehenden Führungskräfte der Polizei ist in diesem Sinne durchaus lohnenswert.
Literatur
Luhmann, N. (1976): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.
Reuss-Ianni, E. & F.A.J. Ianni, 2005: Street Cops and Management Cops: The Two Cultures of Policing. S. 297–314 in: Newburn, T. (Hrsg.): Policing: Key Readings. Cullompton: Willan.
Tacke, V. (2015): Formalität und Informalität: Zu einer klassischen Unterscheidung der Organisationssoziologie. In: von Groddeck, V./Wilz, S.M., (Hrsg.): Formalität und Informalität in Organisationen. Wiesbaden: Springer VS, 37-92.
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