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Gerhardt Weitkunat
Das KFS ist für die Polizei ein Modell zur Beschreibung der Führungswirklichkeit. Ein Modell ist ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit, welches die visuelle Erfassung und gedankliche Fortentwicklung des dargestellten Zusammenhanges ermöglichen soll. Ein gutes Modell zeichnet sich daher insbesondere durch einen gelungenen Spagat zwischen didaktischer Reduktion und präziser Beschreibung der Wirklichkeit aus.
Das Kooperative Führungssystem (KFS), welches Robert Altmann und Günter Berndt in den
70er Jahren entwickelt haben, scheint den skizzierten Anforderungen an ein praxistaugliches Modell von Beginn an nur unzureichend genügt zu haben. So musste das Modell bereits nach wenigen Jahren durch das sogenannte Situative Führen (SV) ergänzt und erweitert werden, weil der Führungserfolg nicht nur von der Anwendung vorgegebener Steuerungsinstrumente abhängt, sondern auch von den jeweils situativ vorherrschenden Rahmenbedingungen. Darüber hinaus fehlt die Beachtung der Aspekte, dass die wenigsten kritischen Führungssituationen in Zweierkonstellationen stattfinden, dass Chronologien mehrerer aufeinander Bezug nehmender Führungssituationen bestehen sowie des Aspektes der individuellen Prädisposition einer Führungskraft. Die mangelhafte Wirklichkeitsbeschreibung des KFS wird weiter durch die Suche nach polizeilich adaptionsfähigen Managementkonzepten in den 90er Jahren illustriert. Im Unterschied zum KFS fanden jedoch sowohl das Situative Führen als auch die Managementkonzepte der „Neuen Steuerung“ nie offiziellen Eingang in die Polizeidienstvorschrift (PDV) 100.
Führungskräfte müssen verschiedene Meta-Aufgaben bewältigen, die ihnen in dem jeweils zugewiesenen polizeilichen Organisationsteil zugeschrieben werden. Sie müssen die Aufgabenerfüllung sicherstellen, aber auch geeignete Rahmenbedingungen für die Erfüllung vordergründiger Organisationsziele schaffen. Eine besondere (weil dauerhafte) Meta-Aufgabe ist die Übersetzungsfunktion an Systemgrenzen, die regelmäßig den Führungskräften des sogenannten „Mittleren Managements“ (Dienststellenleiter sowie Sachbereichs- oder Referatsleiter) zukommt. Eine aufschlussreiche Perspektive zu deren Analyse bietet Niklas Luhmanns Theorie der Betrachtung sozialer Systeme als autopoietisch. Im Fokus dieser Betrachtungsweise steht die Bestandserhaltung sozialer Systeme.
Der Begriff der „Autopoiesis“ (altgriechisch: autos ≙ selbst, poiein ≙ schaffen/bauen) stammt ursprünglich aus der Biologie und beschreibt den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung von Lebewesen bzw. lebenden Systemen. Luhmann adaptiert dieses Konzept für die Soziologie und geht davon aus, dass sich auch soziale Systeme in einem nicht zielgerichteten autokatalytischen Prozess aus sich selbst heraus reproduzieren. Die Operationen innerhalb eines Systems erfolgen zwar nicht aus dem Nichts, sondern aufgrund von Irritationen aus der Umwelt, aber die hierfür erforderlichen Elemente sowie die Verknüpfungen zwischen diesen erzeugt das soziale System selbst. Übertragen auf den Anwendungsgegenstand der Polizei lässt sich konstatieren, dass beispielsweise der tägliche Ablauf des Streifendienstes zwar an dem Auftreten von kriminellen Handlungen ausgerichtet ist, sich aber genauso gut ohne die Irritation eines dienstlichen Einschreitens über Wochen und Monate hinziehen könnte. Fahrtrouten, Funkverkehr und Dienstanweisungen kommen sehr gut ohne das Polizeiliche Gegenüber aus.
Des Weiteren sind soziale Systeme operativ geschlossen. Das bedeutet, dass sie auf der Grundlage der Beobachtung der Umwelt für sich selbst operativ relevante Informationen erzeugen. Die unendliche Komplexität der Umwelt wird mit systemeigenen Begriffen erfasst und somit auf ein verarbeitbares Maß reduziert. Ein anschauliches Beispiel für diesen Aspekt ist die Auswertung eines Einsatzbefehls bezüglich der auftragsrelevanten Informationen von einem untergeordneten Einsatzabschnitt oder einem Streifenteam. Noch deutlicher wird die operative Geschlossenheit am Beispiel der Stabsorganisation einer Behörde oder Dienststelle: Eine komplexe Anfrage oder Eingabe, die von mehreren Organisationsbereichen zu bearbeiten ist, wird in die jeweils relevanten Informationsteile zergliedert und nach den jeweils eigenen Teillogiken weiter verarbeitet. Nicht nur die Einzelergebnisse werden stark von der jeweiligen Bereichslogik geprägt, auch das Ergebnis der anschließenden Zusammenführung der Beiträge zu einer Stellungnahme gegenüber der vorgesetzten Behörde ist stark von der Bereichslogik der mit der Federführung beauftragten Teilorganisation abhängig. Bereits mit der Wahl des federführenden Bereiches prägt die Führungskraft die Nuancierung des Ergebnisses maßgeblich.
Nicht zuletzt sind soziale Systeme selbstreferentiell, was bedeutet, dass sich die Operationen eines Systems ausschließlich auf andere Sinnzusammenhänge des eigenen Systems beziehen. Auch für diesen Aspekt sind die „klassischen Differenzen“ zwischen polizeilicher Einsatz- und der Stabsorganisation ein hervorragendes Anschauungsobjekt: Bei der Besetzung freier Dienstposten in einer Dienstgruppe zählen unter anderem Persönlichkeitsdispositionen wie Integrität und Durchsetzungsvermögen sowie Handlungs- und Rechtssicherheit. Für das Ausschreibungsverfahren kann der zuständige Sachbearbeiter aber nur auf Kriterien wie beispielsweise Beurteilungsnote, Verwendungsbreite und Dienstalter zurückreifen. Die zuvor genannten Kriterien sind für den Sachbereich Personalwesen nicht anknüpfungsfähig zu den eigenen Sinnzusammenhängen und können daher im weiteren Verfahren allenfalls Berücksichtigung finden, wenn sie in der Form von Teilnoten in eine dienstliche Beurteilung eingeflossen sind.
Die Annahme autopoietischer Sozialsysteme vermittelt ein Bild, in dem Dysfunktionalitäten, Sinnbrüche und Bereichsegoismen eher als Regel denn als Ausnahme erscheinen, weil das oberste Ziel des Systems der Selbsterhalt ist. Nur insofern die Erfüllung einer übergeordneten Aufgabe relevant für den Selbsterhalt ist, wird diese Vorgabe zielführend bearbeitet. Aufgrund der selbstreferentiellen Geschlossenheit kommt es erwartungsgemäß recht häufig zu einer Entkopplung der Binnenfunktionen von den übergeordneten Zielen und es bedarf permanenter Aufwendungen und Übersetzungsleistungen, um das sinnhafte Ineinandergreifen mehrerer Sozialsysteme sicherzustellen. Beispiele für dieses Phänomen lassen sich zahlreiche finden: Polizeiliches Einschreiten, das augenscheinlich nur der Erfüllung vorgegebener Kennzahlen dient, Wettbewerbe um die Anzahl sogenannter „Tagebuchnummern“ oder das systematische Decken von disziplinarrechtlich relevanten Verstößen im Kollegenkreis bilden nur eine kleine Auswahl solcher Fehlentwicklungen.
Die skizzierten Sollbruchstellen an Systemgrenzen finden weder in dem kybernetisch geprägten Kooperativen Führungssystem der 70er Jahre noch im Situativen Führen oder den modernen Managementlehren der 90er Jahre Berücksichtigung. Sie sind aber unumgängliche Konsequenz der Binnendifferenzierung von Systemen und trotz ihrer Paradoxie gleichwohl der Garant für die Beständigkeit des sozialen Gebildes. Das geschickte Nutzen oder Überwinden dieser Wirkmechanismen an den Systemgrenzen, das in den Sozialwissenschaften als „Gatekeeping“ bezeichnet wird, ist eine zentrale Aufgabe der polizeilichen Führungskraft und erfordert von dieser eine geradezu schizophrene Geisteshaltung gegenüber dem eigenen Organisationsbereich: Einerseits muss sie die Übersetzungsleistungen für Informationen erbringen, die den nachgeordneten Bereich so sehr irritieren, dass sie nicht im Rahmen der etablierten Strukturen operationalisiert werden können. Es gilt also sensibel zu sein für die Binnenlogiken des eigenen Verantwortungsbereichs und die eingehende Information so zu zergliedern, dass sie für die Sinnmuster der Mitarbeiter anschlussfähig werden. Im Gegenzug muss die Führungskraft eine Entkopplung des eigenen Bereiches von der Gesamtorganisation verhindern, indem sie die eigenen Bereichslogiken jederzeit kritisch hinterfragt. Dazu gehört auch, dass sie für Irritationen sensibel sein muss, die eigentlich auf Fehlentwicklungen im nachgeordneten Bereich hindeuten, aber durch die gewohnten Operationen soweit gangbar gemacht werden, dass ihre Signalwirkung verloren geht.
Dies setzt voraus, dass die Führungskraft eine reflexive Grundhaltung gegenüber sich selbst und dem nachgeordneten Organisationsbereich entwickelt und aufrechterhält. Dieses ständige prüfende und vergleichende Nachdenken stellt höchste Anforderungen an das Fähigkeitsportfolio einer Führungskraft, auf welches sich die Polizei bei ihrer Auswahl, Förderung und Fortbildung von Führungskräften einstellen muss. Das KFS von Altmann und Bernd, das situative Führen und auch die dominanten Modelle der Managementlehre werden diesen Anforderungen an die Personalentwicklung in ihrer modellhaften Funktion nicht gerecht. Ein polizeispezifisches Führungsmodell, welches der Komplexität moderner Führungspraxis gerecht wird, muss daher dringend erarbeitet werden.
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