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Leonie Buschkamp
Die Vorkommnisse an der Kölner Domplatte in der Silvesternacht haben der Kölner Polizei nicht nur massive Kritik beschert, sondern auch den Vorwurf des Versagens als Organisation Polizei erbracht. Illustrierend hierfür ist die Aussage des NRW-Innenministers Ralf Jäger, der sagte: „das Bild, das die Kölner Polizei in der Silvesternacht abgegeben hat, ist nicht akzeptabel.“(Ralf Jäger am 11.01.2016, S. 2). Als Reaktion auf dieses „nicht akzeptable“ Vorgehen der Kölner Polizei, oder auch deren „Versagen“ wurde der an der am Einsatzort nicht anwesende Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers vom NRW-Innenminister in den frühzeitigen Ruhestand versetzt. Albers wurde für den Einsatz verantwortlich gemacht.
Nun kann man dieses Vorgehen unhinterfragt hinnehmen, es ist ja auch eine bekannte Reaktion, dass der Chef verantwortlich gemacht wird und gehen muss, und sich als Bürger durch personelle Konsequenzen beruhigen lassen. Man kann sich aber auch wundern, warum ein nicht anwesender Polizeipräsident zur Verantwortung gezogen wird für die vermutliche Fehleinschätzung eines anwesenden Einsatzleiters, keine weiteren polizeilichen Kräfte für den Einsatz an der Domplatte anzufordern und eben nicht der Einsatzleiter selbst. Denn die zwei Hauptkritikpunkte an der Polizei sind die nicht erfolgte Anforderung von Verstärkung und die Art und Weise wie die Öffentlichkeit informiert wurde (Ralf Jäger am 11.01.2016, S. 4).
Beide Kritikpunkte haben eins gemein: im Kern geht es um die Verarbeitung von Informationen, und zwar einmal um die fehlerhafte Situationsdeutung während des Einsatzes, keine weitere Unterstützung zu benötigen und zum anderen um die Entscheidung wie und mit welchen Informationen die Öffentlichkeit versehen wird. Es ist anzunehmen, dass die Entscheidungen in einer Situation großer Unsicherheit getroffen wurden, man denke zum Beispiel an die politische Brisanz der Flüchtlingsdebatte.
In Organisationen kann der Prozess der Informationsverarbeitung als Verantwortung beschrieben werden (Vgl. Luhmann 1964, S. 174). Verantwortung beschreibt hier ein Kommunikationsproblem. So ist Verantwortung „der ungedeckte Informationswert einer Entscheidung, der Überschuß an Information, die jemand gibt, im Vergleich zu der, die er erhalten hat.“ (Luhmann 1964, S. 175). Verantwortung dient also der Verringerung von Unsicherheit. Zudem ist Verantwortung mit einer Rechenschaftsplicht und der Delegation von Aufgaben verbunden. Das heißt, Mitarbeiter werden in Organisationen für Entscheidungen rechenschaftspflichtig, die auf Unsicherheit basieren. Somit ist Verantwortung per se ein von Mitarbeitern geleistetes Wagnis (Vgl. Luhmann 1964, S. 173). Wer nun aber für was Verantwortung trägt, hängt von den innehabenden Rollen und den zu den Rollen gehörenden Verhaltenserwartungen ab. Die Mitarbeiter haben unterschiedliche Entscheidungs- und Mitteilungspflichten und damit auch unterschiedliche Informationszugänge und Verantwortungen (Vgl. Luhmann 1964, S. 177).
Zurück zu den auf Schuldzuweisung basierenden personellen Konsequenzen bei der Kölner Polizei: Geht man davon aus, dass der Kölner Polizeipräsident Albers in der Silvesternacht weder anwesend war, noch den Einsatz geleitet hat, bleibt zu fragen, warum nur er öffentlich seinen Hut ziehen musste (nachdem er noch am 06.01.2016 den Rücktritt als Option ausschloss) und nicht auch der Einsatzleiter, der verantwortlich war für die fehlende Anforderung von Unterstützung (auch Albers sprach von einem verantwortlichen Beamten (Vgl. www.Tagesschau.de)). Dieser hat mit der Entscheidung, keine Unterstützung anzufordern, die unzureichenden Informationen verdichtet, zu einer Entscheidung verarbeitet und somit verantwortet.
Die Antwort ist in der Diskrepanz von Verantwortung und Verantwortlichkeit zu suchen. Es gibt neben der Strategie Unsicherheit entlang „von Entscheidungszuständigkeiten nach exklusiven Kompetenzen“ (Luhmann 1964, S. 178f.) zu verringern auch die „Auslegung der Verantwortung als Verantwortlichkeit, das heißt als Rechenschaftspflicht für Fehler.“ (Luhmann 1964, S. 179). Die Unterscheidung von Verantwortung und Verantwortlichkeit weist auf die Adressaten von Schuldzuweisungen hin, indem Personen mit Verantwortlichkeit rechenschaftspflichtig gemacht werden.
Es gibt also den Verantwortung tragenden Beamten der Kölner Polizei, der den Einsatz in der Silvesternacht an der Domplatte leitete und den Kölner Polizeipräsidenten Albers, der zur Rechenschaft gezogen wurde und die Verantwortlichkeit trägt. Zum Verständnis dieser Praxis muss man sich den Zusammenhang von der hierarchischen Organisationsordnung, der hierarchischen Verortung von Verantwortung und der hierarchischen Verortung von Verantwortlichkeit vergegenwärtigen. Der Unterschied von Verantwortung, die jede Stelle trägt, und Verantwortlichkeit liegt in den Berichts- beziehungsweise Mitteilungspflichten. Jede Stelle wird verantwortlich gemacht, weil sie ihrem Vorgesetzten rechenschaftspflichtig ist. Das heißt, Verantwortung zeigt sich in der Pflicht von Vermeidung von Fehlern (Vgl. Luhmann 1964, S. 180). Verantwortlichkeit zeigt sich folglich in der Beziehung zum Vorgesetzten, die aufgrund der Rechenschaftspflicht ihrer untergebenen Mitarbeiter theoretisch über deren Handlungen informiert sind. Dem „Organisationsprinzip der Einheit der Leitung muß ein Prinzip der Einheit der Verantwortlichkeit entsprechen.“ (Luhmann 1964, S. 181)
Meist ist es in großen Organisationen aber so, dass die hierarchischen Spitzenpositionsinhaber, wie zum Beispiel der Polizeipräsident, von ihren untergebenen Mitarbeitern über bedeutende Vorkommnisse unterrichtet werden, diese Informationen aber schon das scheinbar unwichtige aussparen. Das heißt, die unteren Stellen verdichten die Informationen, übernehmen somit Verantwortung und geben diese dann an ihre Vorgesetzten weiter, die die Verantwortlichkeit, und damit die Schuld bei Fehlern, dafür tragen müssen.
Verantwortlichkeit trifft in einem offiziellen Schaubild einer Organisation zunächst die Spitze und beinhaltet die Rechenschaftspflicht nach außen. Es klafft also tatsächlich eine Lücke zwischen der hierarchischen Verortung von Verantwortung und der von Verantwortlichkeit Vgl. Luhmann 1964, S. 183f.). Luhmann beschreibt diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Die Verteilung der Verantwortung und die Verteilung der Verantwortlichkeit fallen in großen formalisierten Systemen strukturell auseinander. In den unteren Rängen wird Unsicherheit absorbiert, die Spitze absorbiert Lob und Tadel.“ (Luhmann 1964, S. 184). Für Außenstehende ist die tatsächliche Verteilung von Verantwortung im Gegensatz zu der von Verantwortlichkeit nur schwer auszumachen (Vgl. Luhmann 1964, S. 188).
Betrachtet man die Versetzung Albers unter diesen Gesichtspunkten fällt folgendes auf; Es kann angenommen werden, dass es beim Einsatz in der Silvesternacht Diskrepanzen zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit gab. Albers selbst hat wohl nicht die Entscheidung getroffen, keine Unterstützung anzufordern, sondern die Entscheidung ist vornehmlich das Ergebnis eines Informationsverarbeitungsprozesses der anwesenden bzw. leitenden Beamten. Da Albers hierarchisch jedoch über diesen steht, sind diese ihm rechenschaftspflichtig und geben somit die Verantwortung in Form von Verantwortlichkeit an ihn ab. Die Beamten haben also, wenn auch irreführend, die Unsicherheit für das Vorgehen verkleinert, in dem die Möglichkeit der Verstärkung ausgeschlossen wurde, während Albers den Tadel auf sich genommen hat und damit den anderen Beamten die Kritik erspart. Das Ansehen der Kölner Polizei hat dennoch gelitten, da Albers die Polizei nach außen repräsentiert und somit seine Fehler auch der Polizei zugewiesen werden (Vgl. Luhmann 1964, S. 183 zum Systemschaden durch Fehlerzurechnung auf Leitende).
Außerdem muss man fragen, inwieweit Albers die Verantwortung für die Art und Weise der Benachrichtigung der Öffentlichkeit trägt. Es ist einmal von stark verdichteten Informationen auszugehen, die bei ihm ankommen, zum anderen besteht das Problem der politischen Brisanz bezüglich angenommener Tätergruppen. Darüber hinaus steht die Polizei in einem besonderen Spannungsverhältnis zur Politik. Es stellt sich somit die Frage, inwiefern die Entscheidung darüber, welche Informationen herausrausgegeben werden sollten ausschließlich von Mitarbeitern der Polizei getroffen wurde (Vgl. www.NDR.de).
Die aufgezeigte Diskrepanz zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit ist jedoch nicht per se als negativ zu beurteilen. Die „Schuldzuweisung“ führt zwar häufig nicht zu den „Schuldigen“, hat aber durchaus ihre Funktionalität, beziehungsweise ihren Nutzen für die Organisation. So führt die Diskrepanz neben ihrer entlastenden Funktion der Unsicherheitsverringerung auch zur berechtigten Forderung nach bestimmten Handlungen der hierarchisch niedrigeren Ränge von dem Verantwortlichkeit Tragenden, so muss er doch, in diesem Falle Albers, „seinen Kopf hinhalten“ (Luhmann 1964, S. 187).
Organisationen sind nach Luhmannscher Definition solche sozialen Systeme, die auf Mitgliedschaft beruhen. So können sie eine Grenze zu ihrer sozialen Umwelt ziehen. Auf die Polizei gemünzt bedeutet dies, dass man Polizist*in sein kann oder eben nicht. Mit dem Eintritt in die Organisation unterwirft sich das Neumitglied gewissen Regeln. Die Nichteinhaltung dieser stellt unweigerlich den Fortbestand der Mitgliedschaft in Frage (vgl. Luhmann 1976: 38). Ein Beispiel dafür ist die Anerkennung der polizeiinternen Hierarchie. Widersetzt man sich den Anordnungen seines Vorgesetzten, so wird man es schwer haben, sich dauerhaft in der Polizei behaupten zu können. Doch bereits die Drohung „nur noch Dienst nach Vorschrift“ zu machen zeigt bereits, dass diese formalen Regeln nicht alle Vorgänge in und um eine Organisation herum abbilden können. Formale Regeln müssen eindeutig sein, damit sich ein Mitglied, welches sie befolgt, sich nicht zugleich richtig und falsch zur selben Zeit verhalten kann. Gleichzeitig kann diese formale Ordnung jedoch nicht alle zukünftigen Situationen abdecken, da die soziale Umwelt widersprüchliche und sich zudem ändernde Erwartungen an die Organisation heranträgt (vgl. Tacke 2015: 63f.). Einer Organisation, deren Mitglieder sich lediglich an die formalen Regeln halten, kann man, ohne dabei über eine übermäßig pessimistische Grundhaltung zu verfügen, ein baldiges Ende prophezeien. An dieser Stelle kommen informelle Praktiken ins Spiel.
Hierzu ein Beispiel aus den Niederlanden, wo es üblich ist, dass auch hochrangige Führungskräfte der Polizei im Innendienst mit ihrem Einsatzgürtel ausgerüstet sind. Obwohl diesbezüglich keine Vorschrift existiert und auch nicht von einer erhöhten Bedrohungslage der Beamten innerhalb der eigenen Organisation ausgegangen werden muss, hat sich diese Praxis etabliert. Da nun aber weder eine formale Vorschrift vorliegt, noch der Selbstschutz als Grund dafür hervorgebracht werden kann, stellt sich die Frage, worin dieses Vorgehen stattdessen begründet liegt. Dafür lohnt es sich, einen Blick auf die zwei unterschiedlichen Kulturen der „Street Cops“ und der „ Management Cops“ zu werfen, die in der Polizei vorherrschen (vgl. Reuss-Ianni / Ianni, 2005). Beide Kulturen sind durch das Ziel geprägt Kriminalität zu bekämpfen sowie für Sicherheit zu sorgen. „Street Cops“ jedoch beschützen das Recht vor Ort beziehungsweise auf lokaler Ebene, wobei sie durch die Begegnung mit der harten Wirklichkeit außerhalb des Polizeigebäudes erkennen müssen, dass Flexibilität stärker gefordert ist als vorbereitete Lösungen. „Management Cops“ hingegen, zu denen man auch die hochrangigen Führungskräfte zählt, sehen sich dagegen mit Kriminalität auf einer anderen Ebene konfrontiert. Sie müssen an dieser Stelle lokale Probleme in Verhältnis zu anderen setzen, um so über die Verteilung der polizeilichen Ressourcen entscheiden zu können. Ihr Blick ist in dieser Hinsicht weiter gefasst.
Man kann im Tragen des Einsatzgürtels eine symbolische Funktion sehen. Hiermit können die „Management Cops“ zeigen, dass sie nach wie vor operativ tätig sind und auch die „Street Cop Culture“, der sie einmal selbst folgten, nicht vergessen haben. Man kann hier demgemäß den Versuch erkennen, eine Brücke zu schlagen zwischen diesen beiden Kulturen. Die Praxis der niederländischen Beamten sich auch im Innendienst zu bewaffnen ist nicht allzu überraschend informaler Natur, denn Kulturen sind diejenigen Erwartungen über die nicht entschieden wurde. Wäre das Tragen des Einsatzgürtels eine formale Pflicht, so wäre es nur schwerlich als Zeichen der Verbundenheit der „Management Cops“ zu den „Street Cops“ interpretierbar. Die informale Praxis lässt es zu, die Bewaffnung als eigene Entscheidung der Führungskräfte darzustellen. Liegt hingegen eine formale Vorgabe vor, würde man diejenigen als Entscheider betrachten, die diese Vorschrift durchgesetzt haben. Höchstens das Verzichten auf das Tragen des Einsatzgürtels wär als eine eigene Entscheidung der Führungskräfte zu sehen. Nur durch die kommunizierte Freiwilligkeit kann die Bewaffnung als Symbol funktionieren. Die Betonung liegt hierbei auf dem Adjektiv „kommuniziert“. Es kann durchaus der Fall sein, dass einzelne Personen den Einsatzgürtel faktisch nicht freiwillig tragen, da dies von ihnen abseits von Vorschriften erwartet wird. Es wäre aber erklärungsbedürftig sich offen darüber zu beschweren, da es ja keine formale Pflicht ist. Alles in allem lässt die starke Formalisierung der Polizei nicht darauf schließen, dass Informalität eine geringere Rolle spielt als in weniger formalisierten Systemen. Eine Sensibilisierung der aktuellen und angehenden Führungskräfte der Polizei ist in diesem Sinne durchaus lohnenswert.
Literatur
Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.
NDR.de: Polizei-Pressearbeit: zwischen Politik und Publikum. Stand: 13.01.2016.
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Polizei-Pressearbeit-zwischen-Politik-und-Publikum,polizeipresse102.html
Rede von Innenminister Ralf Jäger anlässlich der Sonderinnenausschusssitzung am 11. Januar 2016 in Düsseldorf: Pressestelle Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen.
https://www.tagesschau.de/inland/rede-jaeger-101~_origin-3364b589-8444-49b9-b662-156ca20794dc.pdf
Tagesschau.de: Interview mit dem Polizeipräsident von Köln Albers weist Kritik zurück - kein Rücktritt. Stand: 06.01.2016.
https://www.tagesschau.de/inland/interviewalbers-101.html
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