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Fritz-Fabian Soll
Ein Kritikpunkt, der organisationssoziologischen Theorien, insbesondere systemtheoretischen Ansätzen, gelegentlich vorgeworfen wird, ist die Ausklammerung der Akteure. Tatsächlich legt die Benennung dieses Zweiges der Soziologie bereits nahe, dass sie mit Organisationen vor allem die Makro-Ebene des menschlichen Zusammenlebens in den Fokus ihrer Betrachtungen stellt. Wohlgemerkt basieren derartige Betrachtungen jedoch vor allem auch auf der Abstrahierung sozialen Handelns. Der Akteur wird nicht vollständig vergessen – je nach theoretischem Ansatz geraten verschiedene organisationale Aspekte in den Fokus: So räumen mikropolitische Ansätze den Handelnden noch ein großes Maß an Freiheit ein, bzw. unterstellen sie ihnen, stets nach dem Primat diese Freiheit zu erhalten und auszubauen zu handeln. Verhaltenswissenschaftliche Ansätze erklären Entscheidungen zum Fundament jeder Organisation, zum Untersuchungsgegenstand wird dabei der Rahmen von „Informationen, Prämissen, Ziele[n] und Orientierungen“ (Bonazzi 2008, 282) die das Verhalten der Akteure in Organisationen lenken und Einfluss auf deren Entscheidungsfindungen haben. In systemtheoretischen Ansätzen scheint es aber auf den ersten Blick so, als bliebe der Stellenwert der Einzelperson auf der Strecke. Ist dem so?
Organisationssoziologie untersucht das Meso-Phänomen Organisation; dessen Mitglieder je nach wissenschaftlicher Perspektive nur „Teil eines größeren Ganzen sind und als Person austauschbar“ (Kühl 2011, 9) ohne dass die Stabilität des Systems funktional eingeschränkt wird. Der Akteur als Individuum mit einzigartiger Identität und Biographie wird gewissermaßen unsichtbar, aber nicht irrelevant. Das zeigt sich paradehaft im systemtheoretischen Ansatz der Organisationssoziologie.
Niklas Luhmann schließt Teile der verhaltenswissenschaftlichen Ansätze in seine Überlegungen ein, in dem er Rückgriff auf das soziologische Paradigma sozialen Handelns als problemorientiertem Handeln nimmt und dementsprechend schlussfolgert, dass Lösungen stets Resultate von Entscheidungen sind. Der bereits genannten Abstraktionstendenz gerecht werdend bezieht er sich dabei zwar überwiegend auf Strukturentscheidungen (vgl. Luhmann 1966), die aber wohlgemerkt als von Personen(gruppen) beschlossen denkbar sind (man denke an Änderungen des Dienstplanes oder andere Personalentscheidungen, Modifikationen bestehender oder Erlass neuer formaler Regeln etc.) – an der Entscheidung beteiligte empirische Personen sind also uninteressant und treten vor der Beobachtung der Entscheidung als Kommunikation in den Hintergrund; sie werden in dieser Qualität unsichtbar, aber nicht nicht-existent.
Ein wesentliches (aber nicht alleiniges) weiteres Konzept findet sich bei Luhmann unter der Bezeichnung der Grenzstelle. Grenzstellen in Organisationen zeichnen sich primär durch ihren Kontakt zur Systemumwelt aus (vgl. Luhmann 1999, 220f), der sich vor allem auch formal legitimiert spezialisiert darstellen kann, beispielsweise in der Rolle des Pressesprechers, genereller aber überall dort, wo Organisationsmitglieder einer Tätigkeit nachgehen, in der sie mit der Umwelt kommunizieren – als Grenzstellen verstehen lassen sich damit also auch KassiererInnen an der Supermarktkasse bzw. kaufmännische Angestellte mit regelmäßigem Kundenkontakt oder noch genereller alle Personen im „Schalterdienst“, ebenso aber auch Organisationsmitglieder im Außendienst – beispielsweise StreifenpolizistInnen.
Die Kommunikationen von Grenzstellen beschränken sich dabei nicht nur auf Informationen aus dem System in die Umwelt, vielmehr übernehmen sie auch eine Relaisfunktion. StreifenpolizistInnen fassen in Berichten nach formalisierten Vorgaben Informationen zusammen, gleichsam ist es ihrem Tätigkeitsfeld inhärent sich Umweltkontakten nicht entziehen zu können; diese Kontaktpunkte zwischen Organisation und Umwelt lassen sich formal nur richtungsweisend regulieren, ein wesentlicher Bestandteil des Umweltkontaktes lässt sich auf informaler Ebene vermuten. Umweltinformationen, die aus diversen Gründen keine Erwähnung in formalen Kommunikationen finden – bspw. Berichten – können dennoch systeminterne Irritationen hervorrufen (vgl. Luhmann 1996, 27). Formale Strukturänderungen des Systems lassen sich dabei wenn überhaupt mittel- bis langfristig erwarten. Diesbezüglicher Handlungsbedarf manifestiert sich bei ausschließlicher Verwendung formaler Kommunikationswege verzögert (vgl. Luhmann 1999, 195f). Anpassungen informaler Strukturen sind kurzfristiger möglich. So können Streifenbeamte sich bspw. gegenseitig warnen wenn in einem Bezirk in letzter Zeit auffälliges Verhalten bestimmter Personengruppen gegenüber der Polizei auftrat, dessen Ausmaße zu gering für formale Erwähnungen sind, aber ausreichend genug um beim Streifendienst erhöhte Vorsicht walten zu lassen. Grenzstellen fällt damit ein außerordentliches Maß an Verantwortung zu. Die Weitergabe von systemrelevanten Informationen geschieht, wenn im spezifischen Sachverhalt nicht formal anders geregelt, nach persönlichem Abwägen (vgl. Luhmann 1999, 224f).
Vorwürfen der Akteursblindheit gegenüber der organisationssoziologischen Systemtheorie sei stets die Empfehlung von Primärliteratur entgegengebracht. Niklas Luhmann beweist mit der Verwendung zahlreicher fiktiver und empirischer Beispiele, dass die für die Theorie notwendige Abstraktion der untersuchten Realität nicht vergisst, das Soziologie ohne den generischen menschlichen Akteur gar nicht erst möglich wäre. Generalisierung bzw. induktive Schlüsse sind der Theoriegenese meist jedoch immanent, wobei der notwendigen Datenreduktion vor allem die identitären Besonderheiten der beobachteten Individuen zum Opfer fallen. So spitzt sich der Vorwurf letztlich zu auf ein noch grundsätzlicheres Problem – das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Theorie und Praxis – das an dieser Stelle jedoch besser nicht mehr angerissen wird. Abschließend sei auf die Diversität soziologischer Ansätze verwiesen, durch die sich Theorien und Herangehensweisen gegenseitig ergänzen lassen. Kein organisationssoziologischer Ansatz kann alleinstehend alle beobachtbaren Probleme erklären – auch nicht Luhmanns Systemtheorie: „For every Durkheim, there has been a Simmel, for every Parsons, a Goffman, for every ‘institutionalist’, an ‘interactionist’.“ (Hallet & Ventresca 2006, 213).
Literaturverzeichnis:
Bonazzi, Giuseppe 2008. Geschichte organisatorischen Denkens. Wiesbaden: VS Verlag
Hallet, Tim; Ventresca, Marc J. 2006. Inhabited institutions: Social interactions and organizational forms in Goulder’s Patterns of Industrial Bureaucracy. In: Theory and Society, Vol. 35 Nr. 2 (April 2006), S. 213-236
Kühl, Stefan 2011. Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: VS Verlag
Luhmann, Niklas 1966. Organisation, soziologisch (Beitrag). In: Kunst, Hermann; Grundmann, Sieg- fried (Häg.). Evangelisches Staatslexikon. Stuttgart, Berlin: Kreuz-Verlag, S. 1410-1414
Luhmann, Niklas 1996. Die Realität der Massenmedien. Opladen: VS Verlag
Luhmann, Niklas 1999 [1964]. Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Juncker & Hublot
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