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Kirsten Vollmar (Masterstudiengang Landespolizei Niedersachsen)
Zunächst möchte ich den Autoren meinen Dank für diesen erfrischend ehrlichen und gleichsam mutigen Beitrag und insbesondere für die geschaffene Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung im Rahmen dieses Blogs aussprechen. Zahlreiche Beschreibungen des Führungsalltags und der Führungslehre in der Polizei treffen aus meiner Sicht den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf. Ich bin überzeugt davon, dass diese Art der Auseinandersetzung richtig und wichtig ist und der Sache, nämlichen dem sinnhaften (im Sinne der Aufgabenerfüllung) und sinnstiftenden (im Sinne der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) Führen von Menschen nur guttun kann.
Bei der Auseinandersetzung mit Ihrem Text sind in mir Fragen aufgetaucht, die ich nachfolgend beschreiben möchte:
„Die Führungskraft“, so die Autoren, „ist (…) der Entwickler und Förderer dieses grundlegenden Potenzials (der Alltagsorganisation) – in all seiner gewachsenen und gelebten Widersprüchlichkeit.“ Dabei setzt das KFS 2.0 auf Professionalität, „d.h. auch auf den ggf. schmerzlichen Lern- und Entwicklungsprozess der Führungskraft beim Entwickeln der Alltagsorganisation.“ Weiter heißt es, die Führungskraft müsse ihren eigenen Verantwortungsbereich von außen beobachten und in seiner Entwicklung bewerten können. Hierzu gehört zweifelsfrei nicht nur die Fähigkeit, von außen auf die Organisation, sondern auch auf sich selbst zu blicken und das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen.
Dies ist ein klar formulierter, zu Recht aber auch ein sehr hoher Anspruch an Führungskräfte der Polizei. Allerdings entsteht bei mir der Eindruck, als könne nach Meinung der Autoren dieses sich selbst und die Organisation „von außen Beobachten“ tatsächlich von jeder Führungskraft auch so umgesetzt werden. Voraussetzung sei lediglich der richtige Wille und die in den polizeilichen Bildungseinrichtungen vermittelten theoretischen Kenntnisse, z.B. jene der Führungslehre.
Ist das so? Hat wirklich jede Führungskraft, die in der Regel einen mehr oder weniger langen Weg der Förderung und Führungskräfteauswahl hinter sich hat, die in der Person liegenden Fähigkeiten und (stabilen) Wertehaltungen, die es braucht, um in einer Zeit der „Komplexität“, „Dynamik“ und „Unbeherrschbarkeit“ die im KFS geforderten Handlungsfelder, wie z.B. „Transparenz“ und „Beteiligung“ auch umzusetzen und durchzuhalten?
Ich bin davon überzeugt, dass es neben dem Willen und der Lehre in Bezug auf Führungsverhalten mindestens noch eine dritte Dimension zu betrachten gilt. Diese möchte ich hier mit dem Stichwort „persönliche Kompetenz“ benennen. Die persönliche Kompetenz umfasst neben der nach außen gerichteten sozialen Kompetenz, vor allem jene (auch psychische) Kompetenz, die den Einzelnen befähigt, sich selbst zu führen und mit den hohen und häufig ambivalenten Anforderungen einer Führungsfunktion angemessen und gesund umzugehen. Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Erlernens und des Erhaltens solcher Kompetenzen gehört für mich zwingend in den Kontext einer modernen Führungslehre.
Die von den Autoren vielfach angesprochene Notwendigkeit zur Selbstreflektion setzt bei dem Einzelnen die Fähigkeit und den Willen zur Selbstdistanz voraus. Um den oben beschriebenen „schmerzlichen Lern- und Entwicklungsprozessen“ auch psychisch standzuhalten, ist daneben ein ausreichendes Maß an seelischer Widerstandsfähigkeit vonnöten. Und um den von den Autoren als Grundlage professioneller Führung geforderten Tugenden „Klugheit“ und „Menschlichkeit“ zu entsprechen, ist meiner Meinung nach eine fortlaufende, intensive und kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Wertehaltungen sowie dem eigenen Menschenbild und den nicht selten damit kollidierenden Werten der Mitarbeiterschaft und der Organisation hilfreich, wenn nicht sogar notwendig. Wo aber ist der Raum, in dem solche Reflektionsprozesse zunächst erlernt und später möglichst selbstverständlich durchgeführt werden können. Wo werden diese Prozesse unterstützt oder besser noch: eingefordert?
Selbstverständlich muss die Forderung nach stetiger Selbstreflektion und damit das mutige Sich-Infragestellen eingebettet sein in eine Organisations- und Führungskultur, die ein solches Verhalten erlaubt und fördert, anstatt es zu blockieren. Dazu ist in diesem Blog bereits einiges geschrieben worden.
Ebenso muss (bereits) die Lehre dem Bedarf und der Notwendigkeit nach Reflexionsarbeit den dafür erforderlichen inhaltlichen und zeitlichen Raum bieten. Dies ist heute noch nicht der Fall. (siehe dazu auch: Rafael Behr, „Braucht die Polizei Bildung? Braucht sie Theorie? Braucht sie Forschung?“, in „Die Polizei“, Heft 7/2013)
Neben den Rahmenbedingungen in der Organisation, braucht es aber vermutlich auch gewisse persönliche Fähigkeiten, um den o.g. Erfordernissen zu entsprechen bzw. standzuhalten. Denn, sofern beispielsweise die Fähigkeit und grundlegende Bereitschaft zur Selbstdistanz nicht gegeben ist, dürfte es mit der geforderten Selbstreflektion und einer konstruktiven persönlichen Weiterentwicklung schwierig werden. Und fehlt ein gewisses Maß an seelischer Widerstandsfähigkeit, besteht vermutlich ein erhöhtes Risiko, den von den Autoren treffend beschriebenen, vielfältigen Herausforderungen nicht gewachsen zu sein. Im schlimmsten Fall drohen chronische Überforderung, eventuell ein Rückgriff auf autoritäres Verhalten aus Hilfslosigkeit oder (seelische) Erkrankungen. Ist es einmal so weit gekommen, hilft die beste Führungslehre leider wenig.
Fraglich bleibt also m.E., welche persönlichen Kompetenzen und psychischen Faktoren notwendige Voraussetzungen sind, um den beschriebenen Anforderungen gewachsen zu sein und die in der Aus- und Fortbildung vermittelten Elemente der Führungslehre auch (nachhaltig) in das eigene Verhalten integrieren und umsetzen zu können. Weiterhin fraglich ist, welche dieser erforderlichen Kompetenzen in der polizeilichen Lehre vermittelt werden können, welche aber auch nicht und folglich von der Person, die sich zu einer Führungskraft ausbilden lässt, bereits „mitgebracht“ werden müssten. Woran sich wiederum besondere Anforderungen an eine Führungskräfteauswahl anknüpfen müssten. (beispielhaft hierzu: Maik Spengler und Stefan Remke, „Welche Personalauswahlverfahren sagen die Eignung von Führungskräften am besten Voraus?“, in „Die Polizei“, Heft 6/2013)
Fazit: Ergänzend zu den Ausführungen der Autoren zur Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Führungslehre, wünsche ich mir einen auch psychologisch ausgerichteten und vor allem empirisch belegten Blick auf die erforderlichen persönlichen Kompetenzen, die zur Umsetzung der beschriebenen Handlungsfelder erforderlich sind und einen intensiveren Blick auf die Frage, welche (Bildungs-) Angebote neben der bestehenden polizeilichen Lehre sowie der Aus- und Fortbildung solche Kompetenzen fördern und stützen könnten.
08.09.13 @ 12:50
Hier hat Frau Vollmar einen offenen Punkt angesprochen, nämlich die Frage, ob die vorhandene Führungskultur den Führungskräften, die künftig reflexiv und entwicklerisch vorgehen, die Lernprozesse organisieren wollen, in der gegebenen Organisationsrealität der Raum dafür eingeräumt wird.
Der Spielraum, den Führungskräfte nutzen können, ist u. a. durch Verhaltensvorgaben, durch das Ausmaß, in dem höhere Vorgesetzte von ihrer Definitionsmacht Gebrauch machen, aber auch durch (unausgesprochene) Unterdrückungsmechanismen (Stichwort: Karriere oder Stagnation) begrenzt.
Ein weiterer Aspekt, der für das Gelingen von Führung in dem von uns vorgestellten Verständnis eine maßgebliche Rolle spielt, ist der Faktor Zeit, der für Entwicklungsprozesse zur Verfügung steht. In einigen Ländern wird für Führungskräfte (soweit sie dem höheren Dienst angehören) von vornherein der Verwendungsbreite ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dienststelle, Stab, oberste Dienstbehörde in drei Jahren – derartige Programme stehen einer kontinuierlichen und nachhaltigen Entwicklungsarbeit entgegen. Davon abgesehen, frage ich mich, welche Erfahrungsnutzen bei den Führungskräften entstehen soll, die in solch kurzen kaum Gelegenheit haben, sich mit den Folgen ihrer Fehler auseinanderzusetzen, weil mit diesen regelmäßig ihre Nachfolger*innen konfrontiert werden.
Es wird also auch darum gehen, die Personalverantwortlichen und die oberen Führungsebenen im Hinblick auf die Notwendigkeit von Spielräumen für Gestaltungsarbeit und ausreichender Zeit für nachhaltige Prozesse, zu sensibilisieren.