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Die Deutsche Hochschule der Polizei ist eine spezielle Hochschule, nicht nur wegen ihres speziellen Gegenstands, der Polizei. Anders als viele andere Hochschulen bildet sie ihre Studierenden für ein konkret benanntes Berufsfeld aus, nämlich für Führungsfunktionen in der Polizei. Schon deshalb steht sie im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis, die jeweils unterschiedlichen Logiken folgen: Theorie hat den Anspruch zu stimmen, Praxis muss dagegen funktionieren. Dieses Spannungsfeld wird gerade bei den Inhalten des Moduls 12 (“Personalführung”) besonders scharf. Einerseits besteht der Anspruch eines Masterstudiengangs darin, eine breite theoretische Fundierung zu legen, eine Erwartung die übrigens von vielen Studierenden geteilt wird. Andererseits wird aber auch (und zu Recht) erwartet, dass der Nutzen dieser theoretischen Fundierung für die spätere Berufspraxis deutlich wird und dass darüber hinaus ein “Werkzeugkoffer”, mit funktionierenden Werkzeugen gefüllt, mitgenommen werden kann.
Eine Idee, die “Brücke” zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, ist die Arbeit mit vorbereiteten Szenarien (“Führungsfällen”), die neben dem Entwickeln von Handlungsoptionen aus der Perspektive der Führungsperson auch die Möglichkeit bieten, die Erklärungskraft von wissenschaftlichem Wissen zu überprüfen und damit auch einen souveränen Umgang mit diesem Wissen zu finden.
In der Folge werden hier einige Beiträge von Studierenden des Masterstudiengang 2013-15 veröffentlicht, die sich mit dem spannungsreichen Verhältnis von Theorie und Praxis in der Führungsausbildung und deren Didaktik auseinandersetzen und zur Diskussion auffordern.
Siefert 10.09.15 @ 09:55
Grundsätzlich stellt sich mir die Frage, ob es tatsächlich Sinn der Führungslehre im Rahmen des Studiums ist, möglichst praxisnah zu wirken und den Studenten konkrete Handreichungen zur späteren Umsetzung im realen Leben an die Hand zu geben. Ein Denkansatz wäre dagegen, dass konkretes Handeln ohnehin in der Praxis gelernt wird und es nicht vielmehr die tiefergehenden theoretischen Hintergründe sind, die das Studium vermitteln sollte und die der Steigerung der persönlichen Kompetenz dienen. Aber als Student wünscht man sich natürlich zunächst, sehr praxisnah und fallbezogen zu lernen, um Sicherheit bei der späteren Umsetzung im realen Leben zu gewinnen. Das Szenarienbasierte Lernen kommt diesem Wunsch der Studenten nach. Allerdings kann man diskutieren, wie sehr sich Theorie und Praxis hier tatsächlich verbinden lassen.
In Theorie und Übung können stets nur Teilaspekte eines Problems beleuchtet werden, eine wirklich umfassende Auseinandersetzung mit den Hintergründen des Geschehens, den handelnden Personen und anderen Beteiligten sowie eine realistische Einstufung des eigenen Standings der Führungskraft können kaum dargestellt werden. Dadurch unterliegen auch wohl durchdachte und nah an der Wirklichkeit ausgerichtete Fallbeispiele der Theorie einer gewissen Übungskünstlichkeit. Dieser Umstand wird noch dadurch verstärkt, dass die Teilnehmer an Rollenspielen oder anderer interaktiver Teilnahme am Fortbildungsinhalt sich bewusst oder unbewusst so verhalten, wie sie vor dem Trainer bzw. den anderen Teilnehmer des Seminars wirken wollen und nicht nur, wie sie sich tatsächlich im Gespräch mit Mitarbeitern oder Vorgesetzten verhalten würden.
Dies alles lässt sich wohl nicht vermeiden, die sich daraus ergebenden Einschränkungen sollten aber in der Einstufung der Umsetzungsfähigkeit des Erlernten in die Praxis berücksichtigt werden.
Mikropolitische Prozesse spielen im „Echtbetrieb“ eine wesentliche Rolle, können aber in der Theorie höchstens angedeutet werden. Hier wäre vielleicht eine thematische Verzahnung mit dem Fachgebiet 04 erstrebenswert, um das Möglichkeiten-Spektrum in der Darstellung von Problemlagen und zugehörigen Lösungsstrategien zu erweitern.
Übungsfälle zu nutzen birgt den elementaren Vorteil, dass sich die Trainer gut auf die erwartbaren Problemstellungen, Fragen und anzubietenden Lösungsstrategien vorbereiten können. Dadurch stehen bei der Fortbildung kompetente Ansprechpartner zu den theoretischen Grundlagen und zum Umgang mit den Situationen der Übungsfälle zur Verfügung. Grundsätzlich wäre es aber natürlich auch wünschenswert, „echte“ Fälle darzustellen, da diese stets noch eine Nuance authentischer wären. Übertragen auf die Lehr- und Fortbildungsinhalte wäre es daher möglicherweise eine Option, die Übungsfälle mit Berichten tatsächlich erlebter Fallkonstellationen zu ergänzen, die, ähnlich wie in den Modulen der Einsatzlehre, mit Gruppenarbeiten zu denkbaren Lösungsansätzen ergänzt werden.
Auch bei der Umsetzung der hier dargestellten Verbesserungsvorschläge besteht natürlich weiterhin eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die unmöglich völlig aufzulösen sein wird: Trotz weitgehend authentischem, an realen Fällen ausgerichtetem und mit umfassendem theoretischem Grundlagenwissen untermauertem Lehrinhalt bleibt ein Faktor der Theorie vorenthalten, nämlich die persönlichen Gefühle und Wahrnehmungen der Führungskraft in der realen Situation, die das eigene Handeln ebenso beeinflussen, wie die die in Aus- und Fortbildung erlernte fachliche Kompetenz. Eigene Gefühle wie Ärger, Wut, Mitleid und Trauer, körperliche Reaktionen wie Schwitzen und Zittern sowie ein persönlicher, möglicherweise durch Stereotypen geprägter Eindruck über andere Personen lassen sich durch in der Theorie angeeignetes Fachwissen nur teilweise unterdrücken bzw. gezielt beeinflussen. Das muss jeder selbst erstmal in der Praxis erleben…
Neueder 10.09.15 @ 18:51
Dem Verhältnis von Theorie und Praxis nähere ich mich über die kurze Diskussion zweier gegensätzlich erscheinender Thesen an.
These 1: Wesentliche Teile guten Führungsverhalten kann und muss man lernen.
Innerorganisatorische tägliche Kämpfe um Personalstärken, Beurteilungsquoten oder Sachausstattung verlangen von Führungskräften ebenso zu erlernendes organisatorisches, strategisches und rechtliches Wissen, wie die formelle Repräsentation einer Organisationseinheit „nach Oben und Aussen“. Kenntnisse und Fertigkeiten im Rahmen von Problemlösungsprozessen sind weiterhin Fundament guter Führung. Das Kooperative Führungssystem, der situative Ansatz des selbigen sowie diesbezügliche Weiterentwicklungen bilden trotz aller theoretischen und trocken erscheinenden Darbietungsformen wichtige Ausgangsgrundlagen, über die eine Führungskraft verfügen muss. Diese Theorie ist damit essentiell.
Zum Lernen gehört auch das Kopieren, das Beobachten von Verhalten anderer Führungskräfte im Hinblick auf Eignung und persönliche Brauchbarkeit von Methoden und Techniken. Ziel ist hier der Aufbau eines eigenen „Werkzeugkasten Führungsinstrumente“.
These 2: Die wesentlichen Elemente der Führung stellen nicht die lernbaren Inhalte, sondern die Art und Weise des persönlichen Führungsverhaltens dar.
Führung beinhaltet im Wesentlichen Elemente von Intuition und Empathie, diese sind als persönliche Fähigkeiten nur sehr begrenzt theoretisch greifbar und lern- bzw. lehrbar. Authentizität und die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren (insbesondere mit fremder Kritik umzugehen und eigene Schwächen zu erkennen und an diesen zu arbeiten) spielen neben anderen individuellen Eigenschaften eine herausragende Rolle im Führungsgeschäft und überwiegen vielmals in der Wahrnehmung der Mitarbeiter deutlich.
Ohne ein ausgeprägtes Gefühl für Mitmenschen, ohne Interesse für menschliches Verhalten, ohne die Bereitschaft, sich auch mit der eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen, wird der beste Theoretiker scheitern.
Fazit:
Menschen, die sich in Gruppen als Führer ausdrücklich wohlfühlen und Führungsqualitäten instinktiv und ohne weiter reflektieren zu müssen leben, können trotzdem ihr volles Potential nicht ausschöpfen, wenn grundlegendes theoretisches Wissen fehlt. Herausragende Theoretiker scheitern bereits beim ersten „Kaffeegespräch“, wenn es ihnen an grundlegenden menschlichen / persönlichen Führungseigenschaften fehlt.
Viele Aspekte der Menschenführung wirken parallel und in Abhängikeiten zueinander. Das Zentrum einer guten Führung bildet dabei jedoch der Umgang mit Menschen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reagieren in vielen Belangen und gerade in sensiblen Problembereichen oftmals sehr viel mehr auf die Art und Weise einer Führungskraft, als auf Inhalte und sachlich/formale Aspekte.
Basierend auf den obigen Ausführungen ist das richtige Verhältnis von Theorie und Praxis in der Führungslehre damit absolut individuell. Dies gilt unter zwei Gesichtspunkten: zum einen ist es natürlich auf die Person der Führungskraft bezogen. Zum anderen jedoch unbedingt auch auf die Gruppe, welche es zu führen gilt! Während eine Gruppe mit einer bestimmten Art von Führungsstil gut zurecht kommt und damit ihren Vorgesetzten als „guten Führer“ einschätzt, kann es durchaus sein, dass dieser in seiner nächsten Verwendung mit genau dieser vormals gelobten Art und Weise der Führung große Probleme hat und sein Verhalten anpassen muss, bzw. sich die Gruppe in der Folge anpasst. Basierend auf meiner persönlichen Erfahrung ist eine Gruppe eines Personenschutzkommandos unter völlig anderer Führungsvoraussetzung zu leiten, als ein Kommissariat mit lebenserfahrenen Kriminalbeamten und Islamwissenschaftlern. Auch persönliche Flexibilität und die Bereitschaft, fortlaufend weiter zu Lernen, sind damit also Schlüsselqualifikationen.
Bezug zur aktuellen Ausbildung:
Die Vielfalt der unterschiedlichen Auswahlverfahren der Bundesländer und des Bundes, sowie die großen Unterschiede in den Vorerfahrungen der Studierenden haben für die DHPol zwingend zur Folge, dass sie die komplette Bandbreite an bestehender Führungserfahrung abdecken muss. Dies erscheint in praxisbezogener Hinsicht sehr viel schwieriger, als in theoretischer. So fühlten sich nicht wenige Kollegen, welche schon schwierige Führungssituationen bewältigen mussten, fast ein wenig „verschaukelt“, als tatsächlich über eine Unterrichtseinheit in der Gruppe im „Praxismodul Führungslehre“ diskutiert werden musste, was nun zu tun wäre, „wenn der Präsident den PI-Leiter Karstadt anruft“! Zum großen Erstaunen dieser Beamten wurde dies jedoch von Kollegen anderer Bundesländer mitnichten so empfunden, vielmehr wurde die Stunde von diesen als wertvoll bewertet.
Vor diesem Hintergrund – und insbesondere im Rahmen einer so kurzen Erörterung – möchte ich mir nicht anmaßen, quasi aus dem Ärmel Verbesserungsvorschläge „müsste man, sollte man, könnte man“ anzuführen, welche nicht bis in die letzte Konsequenz durchdacht sind.
Insgesamt ist jedoch wünschenswert, der Ausbildung einen deutlich stärkeren polizeilichen Bezug zu verleihen. Die herausragende Resonanz auf die Erfahrungen im Trainingszentrum Ahrweiler mögen hierfür Beleg sein.
Wissenschaftliche Arbeitsweise ist auch für die Polizei wertvoll, an dieser Weiterentwicklung führt kein Weg vorbei! Dabei kommen jedoch zentrale Aspekte beispielsweise der Einsatzlehre aktuell erheblich zu kurz und sind im Vergleich mit Modulen, die sich beispielsweise mit Public Management u.ä. beschäftigen, zeitlich stark untergewichtet. Hinzukommt, dass die o.g. Authentizität erheblich leidet, wenn Wissenschaftler im Rahmen der Unterrichtung auf bestehende polizeiliche Problemfelder nicht nur keine Antworten haben, sondern dafür nicht einmal Interesse bekunden.
JPT 14.09.15 @ 13:36
Wenn es um die Vermittlung von Führungswissen bei der Aus- und Weiterbildung von Führungskräften geht, befindet man sich zwangsläufig im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Dabei hört man häufig Aussagen wie: „Das was in der Theorie gut klingt, funktioniert in der Praxis doch sowieso nicht“ und „würden die Praktiker die wissenschaftlichen Erkenntnisse bzw. theoretischen Modelle konse-quent anwenden, würde es auch funktionieren.“
Hierbei stellt sich die Frage, wie man Theorie und Praxis bei der Führungsvermittlung verbinden kann, damit ein nachhaltiger Nutzen für die Organisation und ein Lernerfolg für die Führungskraft im Sinne einer praktischen Umsetzung entsteht.
Eine Organisation und damit auch die Polizei ist nur so gut wie ihre Führungsmann-schaft. Diese relativ alte Erkenntnis gewinnt heute angesichts zunehmender Technisierung, Globalisierung und Wirtschaftlichkeitsbestrebungen sowie eines allgemeinen Wertewandels, Umdenkungsprozesses und aktueller Entwicklungen in unserer Gesellschaft verstärkt an Bedeutung.
Polizeiliche Führungskräfte lassen sich auf dem externen Markt kaum rekrutieren, sondern müssen ausgebildet und entwickelt werden. Hierzu ist es notwendig, Führung zu vermitteln und zu trainieren.
Die Leistungsfähigkeit einer Organisation hängt entscheidend davon ab, ob die Führungskräfte die Anforderungen der Mitarbeiterschaft und der sich schnell verändernden Rahmenbedingungen erfüllen können und Lernbereitschaft für Veränderungen zeigen. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist, dass die Qualifikation der Führung ständig an neue Erfordernisse angepasst wird.
Wenn über Führungsvermittlung gesprochen wird, so impliziert man darin gleichsam die Möglichkeit und Annahme, Führung erlernen zu können, was für den Ansatz der Konzipierung einer Fülle von Workshops, Seminaren, Trainings oder sonstigen Aus- und Fortbildungsveranstaltungen ausschlaggebend ist, obgleich praktische Erfah-rungen und Trainings das eigentliche Erlernen und die Professionalisierung der Führungsarbeit ausmachen.
Vermittlungsaktivitäten zum Thema Führung werden in vielen Werken als Bildungs-aktivitäten des Personalmanagements angesprochen. Die Fort- und Weiterbildung im Sinne einer Vermittlung von Qualifikationen stellt dabei den Kern der Personalent-wicklung dar. Demgegenüber unterscheidet man zwischen der Anpassungsfort-bildung (im Sinne der Erhaltung von horizontalen Kenntnissen, Fähigkeiten und Mobilität) und der Aufstiegsfortbildung (im Sinne von vertikaler Kenntniserweiterung, Fähigkeits- und Mobilitätsförderung). Die Gesamtheit der Vermittlung von Führung, Führungswissen, Führungstechniken oder -methoden und das Aneignen von Führungserfahrung stellt sich jedoch als eine übergreifende Bildungsaktivität dar, die für alle Führungsebenen von Bedeutung ist und in der Anpassungsfortbildung und der Aufstiegsfortbildung Anwendung findet.“
Hierzu lassen sich historisch unterschiedliche Entwicklungsstufen der Führungsver-mittlung aufzeigen. In den 50iger Jahren wurden noch stark lehrorientierte Themen-blöcke aneinandergereiht, die als reaktive Fortbildungsmaßnahmen Lücken im Qualifikationsniveau der Führungskräfte schließen sollten. In den 60iger und 70iger Jahren wurde die transferorientierte Weiterbildung postuliert, aus der sich in den 80iger Jahren die problemlösungsorientierte Weiterbildung entwickelte. Mit den weltwirtschaftlichen Veränderungen in den 90iger Jahren und dem Einzug des New Public Managements in den öffentlichen Verwaltungen, hat auch die Aus- und Weiterbildung eine erhebliche Veränderung erfahren.
Dies führte dazu, dass nicht mehr nur die sozialanthropologische Werteidentifi-zierung und -ausrichtung im Vordergrund stand, sondern wirtschaftliches Denken fortan mit eine Rolle im Handeln der Führungskräfte spielen musste. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts wird bei der systematischen Zusammenstellung von Aus- und Weiterbildungsinhalten zunehmend auf „Action Learning“ als Konzeption zurückgegriffen.
Dabei baut das aktionsorientierte Weiterbildungskonzept auf einer Lernphase (Vermittlung theoretischer Inhalte), der Reflektion und Umsetzung in der Praxis sowie einer Reflektion der Praxiserfahrungen auf. Mit der praxisorientierten Umsetzungs-phase soll der Lernerfolg nachhaltig gesichert werden.
Action Learning beschreibt dabei eine Methode des Erfahrungslernens. Es basiert auf der Überzeugung, dass Mitarbeiter einer Organisation am besten anhand einer realen Herausforderung lernen, indem sie theoretische Inhalte unmittelbar einsetzen und anwenden können. Hierbei entsteht gleichermaßen ein doppelter Nutzen: Einerseits wird ein Bedürfnis der Organisation befriedigt und anderseits werden Individuen weiterentwickelt, also Führung vermittelt.
Action Learning ist somit die optimale Zwischenstufe zwischen Theorie und Praxis. Demnach stellt Action Learning eine Möglichkeit der Führungsvermittlung im Spannungsfeld bei der Verbindung von Theorie und Praxis in der Führungslehre dar.